Spannend und atmosphärisch dicht erzählt er eine tragische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund revolutionärer Umbrüche.
Als der wenig beliebte, doch außerordentlich vermögende Adam Zarnowski im Jahre 1905 stirbt, reisen Verwandte und Bekannte zu seinem Gutshof, um das Erbe anzutreten: Sein attraktiver Neffe Wladyslaw Krzycki, die wohlhabende Jungwitwe Zosia Otocka, deren feenhafte Schwester Marynia und eine geheimnisvolle Freundin aus England sind nur einige der illustren Gäste, die sich in der polnischen Ortschaft Jastrza?b einfinden. Noch während sich zwischen ihnen erste zarte Bande entspinnen, sorgt die Eröffnung des Testaments für eine Überraschung, bei manchem Bauern aus der Gegend auch für Enttäuschung. In die angespannte Stimmung mischen sich zunehmend gewaltsame Töne, als revolutionäre Unruhen von Rußland auf Polen übergreifen. Eine Katastrophe bahnt sich an.
Als der wenig beliebte, doch außerordentlich vermögende Adam Zarnowski im Jahre 1905 stirbt, reisen Verwandte und Bekannte zu seinem Gutshof, um das Erbe anzutreten: Sein attraktiver Neffe Wladyslaw Krzycki, die wohlhabende Jungwitwe Zosia Otocka, deren feenhafte Schwester Marynia und eine geheimnisvolle Freundin aus England sind nur einige der illustren Gäste, die sich in der polnischen Ortschaft Jastrza?b einfinden. Noch während sich zwischen ihnen erste zarte Bande entspinnen, sorgt die Eröffnung des Testaments für eine Überraschung, bei manchem Bauern aus der Gegend auch für Enttäuschung. In die angespannte Stimmung mischen sich zunehmend gewaltsame Töne, als revolutionäre Unruhen von Rußland auf Polen übergreifen. Eine Katastrophe bahnt sich an.
Polnische Schicksale: Ein Spätwerk von Henryk Sienkiewicz
Das Jahr 1905 wäre für die Polen ohnehin ein denkwürdiges Datum gewesen: Genau ein Jahrhundert und eine Dekade waren seit jenem fatalen Jahr 1795 vergangen, in dem ihr Vaterland zum dritten Mal unter die Nachbarmächte aufgeteilt und damit endgültig von der Landkarte Europas gelöscht wurde. Doch anstelle der Ermahnung zum stillen Gedenken erreichte sie bereits im Januar ein flammender Aufruf: "Genossen! Es ist ein großer Augenblick. In der Hauptstadt des Zaren begann die Revolution. Bei einem gemeinsamen Sturm wird der morsche Zarenthron nicht widerstehen können. Daher: Auf zum Werk! Auf zur revolutionären Tat!"
Dieser Appell des Warschauer Arbeitskomitees der Polnischen Sozialistischen Partei fand zwar große Resonanz, doch die Revolution wurde bekanntlich zerschlagen, und die Polen mußten weitere dreizehn Jahre warten, bis ihr Freiheitstraum Wirklichkeit wurde. Im Jahre 1905 konnten sie nur aus einem freudigen Ereignis Trost schöpfen: Henryk Sienkiewicz, der Autor des Welterfolgs "Quo vadis?", wurde als erster Pole mit dem Literaturnobelpreis bedacht.
Seine enorme Popularität verdankte er in erster Linie seinen historischen Romanen, vor allem seiner Trilogie über das 17. Jahrhundert, die drei erfolgreiche Feldzüge - gegen die ukrainischen Kosaken ("Mit Feuer und Schwert"), die Schweden ("Die Sintflut") und die Türken ("Herr Wolodyjowski") - zum Hintergrund hat. Im Stoff lag auch größtenteils das Geheimnis des Erfolgs: Die seit Jahrzehnten gedemütigten Polen brauchten nichts dringender, als daß man ihnen die ruhmreichen Kapitel ihrer Geschichte vor Augen führte.
Allerdings bestand sein OEuvre auch aus Werken, die ganz im Zeichen der Gegenwart standen. Dazu gehörte nicht zuletzt sein später Roman "Wirren" (1910), ein Liebesroman mit politischen Exkursen. Das Buch war eine Reaktion auf die Revolution von 1905 und wurde von allen politischen Lagern gleichermaßen mit hohen Erwartungen gelesen - zum einen, weil Sienkiewicz als eine der höchsten moralischen Autoritäten galt, und zum anderen, weil man sich davon eine Antwort auf die Frage versprach, welche Fraktion sich nun mit seinem Namen schmücken durfte. Bis dahin hatte er mit verschiedenen Parteien, insbesondere aber mit den extrem konservativen Nationaldemokraten, kokettiert.
Anfänglicher Handlungsort des Romans ist ein Landgut, auf dem anläßlich einer Testamentseröffnung mehrere Personen zusammentreffen: der Besitzer Wladyslaw Krzycki, die Jungwitwe Zofia Otocka und ihre musikbegabte Schwester Marynia sowie eine geheimnisvolle Engländerin namens Agnes Amney. Dies ist auch der Auftakt des romantischen Handlungsstrangs, in dessen Mittelpunkt Krzycki und Agnes stehen. Sie fühlen sich von Anfang an zueinander hingezogen, bald gestehen sie sich ihre gegenseitige Liebe. Doch kurz nachdem sie ihre Verlobung kundgetan haben, wird das Geheimnis der fließend Polnisch sprechenden Fremden gelüftet: Sie hat ihre Jugend in einem benachbarten Dorf verbracht und in dieser Zeit ein kurzes Liebesverhältnis mit Krzycki gehabt. Eine Schicksalsfügung hat sie später nach England geführt, wo sie zu Bildung und Vermögen gekommen ist. Obwohl Krzycki trotz der schockierenden Enthüllung die Verlobung aufrechterhalten will, wächst zwischen den Liebenden schnell eine Mauer aus Scham, Vorurteil und verletztem Stolz. Als sich die wahre Identität der "Engländerin" herumspricht, dauert es nicht mehr lange, bis die Verbindung gelöst wird, obwohl sie selbst das Land wieder verläßt.
Das einfache Volk, aus dem sie stammt, ist ein wichtiges Thema der Handlung. Zunächst sind es die Bauern der Gegend, deren Unzufriedenheit - laut besagtem Testament sollen sie nicht, wie erwartet, Geld und Land, sondern eine Landwirtschaftsschule erhalten - zunehmend in offene Rebellion übergeht. Als nach mehreren Sabotageakten und Anschlägen auch Krzycki Opfer eines Überfalls wird und die Gutshausbewohner schließlich nach Warschau flüchten, rückt die Arbeiterschaft in den Fokus. Tragischer Höhepunkt beider Handlungsstränge ist eine Straßenschlacht, bei der die sechzehnjährige Marynia ums Leben kommt.
Ansonsten fällt das Bild der Revolution eher blaß aus, denn Sienkiewicz setzt sich mit ihr vor allem in langen Diskursen auseinander. Dazu stellt er Krzycki einige Widersacher zur Seite, unter denen eine weltfremde Künstlernatur ebenso zu finden ist wie ein zynischer Bonvivant oder ein "kenntnisreicher Dilettant". Die Ereignisarmut der Handlung war übrigens auch ein Haupteinwand seiner Zeitgenossen, die auch sonst auf das Buch kühl bis ablehnend reagierten. Sie warfen Sienkiewicz Realitätsfremdheit vor und kritisierten, daß er keine eindeutige politische Stellung bezogen habe. Und in der Tat sprach er sich weder für die Revolution noch für die Zusammenarbeit mit dem zaristischen Rußland aus, dafür demonstrierte er um so deutlicher die Kluft zwischen den Interessen einer Gesellschaftsschicht und denen der ganzen Nation.
Seine antirevolutionäre Haltung hatte freilich tiefere Ursachen: Dem erklärten Befürworter der "organischen Aufbauarbeit", wie die Positivisten das Bemühen um eine harmonische Entwicklung der Gesellschaft nannten, war jede kurzfristig herbeigeführte Veränderung zuwider. "Doktrinen berauschen nicht schlechter als Alkohol", ließ er im Roman sein Alter ego verkünden, "folglich sind momentan alle betrunken." Außerdem war er der Ansicht, daß die Polen sich einen offenen Klassenkampf nicht leisten könnten, weil das Wiedererlangen der Unabhängigkeit höchste Priorität habe.
Die Erfüllung seines Traums erlebte er nicht mehr: Im Jahre 1916 starb er im Schweizer Exil. Und sein letzter großer Roman führte weiterhin ein Schattendasein. Auf die Erstausgabe von 1910 folgten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lediglich zwei weitere, in den Zeiten der Volksrepublik erschien das Buch nur einmal (1951). Erst im Wendejahr 1990 brachte es ein Danziger Verlag neu heraus, doch auch diesmal mit geringem Erfolg. Offenbar hatten die Leser noch zu frisch die eigene Revolution vor Augen, um sich mit der ihrer Vorväter zu beschäftigen.
MARTA KIJOWSKA.
Henryk Sienkiewicz: "Wirren". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Karin Wolff. Nachwort von Olga Tokarczuk. Manesse Verlag, Zürich 2005. 572 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der polnische Nobelpreisträger von 1905 habe bessere Bücher geschrieben, stellt Rezensent Adam Olschewski fest, beispielsweise drei "dickbändige" Romane zum 17. Jahrhundert. Für diese fernen Zeiten wäre der Autor nämlich nicht in Verlegenheit geraten, seine politisch reaktionäre Weltanschauung als Zeitanalyse zu camouflieren. Der Roman "Wirren" dagegen spiele um das Jahr 1905, als von Russland beunruhigende revolutionäre Nachrichten in das besetzte Polen drangen. Zunächst schildere der Autor mit "handwerklich" großer Könnerschaft das Leben um einen adligen Gutsbesitzer, in dem man gerne über den Staat, Beethoven und die unzufriedenen Bauern plaudere, aber auch über die Liebe, die in Form eines englischen Fräuleins auftauche. Solcherart Wirren begründen den Titel des Romans, bis sich die Handlung nach Warschau verlagere, wo "das Proletariat auf die Straße strömt". Als Vertreter dieser Klasse lasse Sienkiewicz, so der Rezensent, den "physiognomisch abstoßenden Hauslehrer Laskowicz" auftreten. Solcherart kurzen Prozess mit jeder differenzierten Charakterdarstellung mache der Autor allerdings bei den meisten seiner Figuren, bedauert der Rezensent. Im Polen von heute sei Sienkiewicz ein "schichtenübergreifend populärer Autor", nur sein Roman "Wirren" sei eigentümlich vergessen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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