Durch die Weite der Steppe Kasachstans fährt ratternd ein Zug. In ihm begegnen sich ein Reisender und Erjan, das Wunderkind. Der Knabe spielt mitten in dieser vom Zug durchquerten Einöde so virtuos auf seiner Violine, dass nicht nur dem Erzähler Hören und Sagen vergeht. Doch die Musik bleibt nicht das einzige Wunder. Denn der Junge, der aussieht wie zehn oder zwölf, ist in Wahrheit bereits ein Mann von 27 Jahren; als Kind tauchte er allen Warnungen zum Trotz in einen nuklear verseuchten See. Hamid Ismailov versetzt damit das Blechtrommel-Motiv des Immer-Kind-Bleibenden in die Einöde des von 486 Atombombentests verseuchten Kasachstan und gibt ihm eine herbe Intensität von tiefer Schönheit. Zwei Welten prallen darin aufeinander: die Weite und Einsamkeit der Steppe Kasachstans und die moderne Welt außerhalb davon - der Zug, der diese wie stehen gebliebene Welt täglich durchfährt, die Atomtests, die wie eine unsichtbare Macht die Natur und die Menschen verändern, die Musik, die einen anderen Rhythmus in Yerzhans Leben bringt.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Jörg Plath freut sich über die erste deutsche Übersetzung Andreas Tretners von Hamid Ismailovs, wie er findet, grandioser Erzählung "Wunderkind Erjan". Der 1954 in Kirgistan geborene, ehemalige BBC-Journalist beschreibt darin das Aufeinandertreffen des Erzählers mit dem zwölf Jahre alt aussehenden, aber eigentlich 27 Jahre alten Geigenspieler Erjan, der ihm von seiner von Atombombentests und deren Folgen geprägten Kindheit in der kasachischen Landschaft berichtet. Dabei verklärt Ismailov allerdings keinesfalls das Steppenleben im Kontrast zur Moderne - stattdessen lässt er Erjans individuelle Erzählung zur Fiktion werden, indem der Protagonist einschläft und sein Zuhörer somit beginnt, sich die Geschichte weiterzuspinnen, erklärt Plath. Das ist dem Rezensenten zufolge alles leicht, beschwingt, knapp, immer mal wieder aus kindlicher Perspektive und stellenweise sogar komisch erzählt. Am Ende der Lektüre fragt man sich staunend, was Ismailov eigentlich nicht kann, schließt Plath.
© Perlentaucher Medien GmbH
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