Eine Zwölfjährige in einem armuts- und kriminalitätsdurchtränkten Land. Sehr lesenswert!
Die zwölfjährige Tête Félée, was so viel wie Spinnerin bedeutet, wächst in den Slums von Port-au-Prince auf Haiti auf. Die allgegenwärtige Armut ist zum Greifen, die Lebensumstände so, wie wir es uns nicht im
Entferntesten vorstellen können. Um an Wasser zu kommen, muss Tête Félée von ihrer Hütte, in der…mehrEine Zwölfjährige in einem armuts- und kriminalitätsdurchtränkten Land. Sehr lesenswert!
Die zwölfjährige Tête Félée, was so viel wie Spinnerin bedeutet, wächst in den Slums von Port-au-Prince auf Haiti auf. Die allgegenwärtige Armut ist zum Greifen, die Lebensumstände so, wie wir es uns nicht im Entferntesten vorstellen können. Um an Wasser zu kommen, muss Tête Félée von ihrer Hütte, in der sie mit ihrer Mutter und Stiefvater lebt, fünfhundert Meter zum nächsten Brunnen pilgern. Der Kampf um einen Eimer Wasser geht oftmals über Stunden.
S.20: „Mich wie gestern vier Stunden lang mit Wortgefechten und Körperscharmützeln abgegeben, um an einen Eimer Wasser ranzukommen […]“
Das Slumleben scheint von den Erwachsenen gewollt zu sein. Ihre Mutter, genannt Fleur d’Orange, arbeitet als Nobelprostituierte, und ihr Stiefvater ist die rechte Hand des Gangster-Bosses mit dem Namen Metall-Engel. Am Geld scheint es nicht zu liegen.
Tête Félée möchte lernen, bemüht sich in der Schule, auch wenn: „Die Schule ist mit Abstand eine der dreckigsten Abwegigkeiten, in die sich unsere Welten zum Zweck der Erleuchtung allzu sehr verbissen haben.“
Dennoch zieht es sie dorthin, nicht zuletzt wegen ihrer Schulkameradin Silence, die Tochter ihres Lehrers, in die sie sich verliebt hat.
Neben dem Schülerinnendasein gibt es nur noch das raue Leben. Ihr Stiefvater, den sie dennoch Papa nennt, spannt sie für so manche Gaunereien ein. Die Kriminalität wird von den Kindern in den Slums mit der Muttermilch aufgesogen. Doch die Dinge entwickeln sich selten so, wie man es sie für sich vorhersieht oder wünscht.
Tête Félée möchte weg, hat Haiti satt.
S.48: „Raus aus diesem Land mit seinen lockersitzenden Kugeln. Raus aus diesem Land der zwölfjährigen Gangster. Runter von dieser Insel mit ihren unendlichen Schwindelliedern.“
S.59: „Was die Polizisten angeht, so waren sie, wie immer in diesem Land, damit beschäftigt, ihrem Beruf nicht gerecht zu werden.“
Mehr kann ich nicht verraten, denn alles andere wäre gespoilert. Und es passiert in diesem gerade mal 115 Seiten starken Roman noch jede Menge. Schlimme, brutale Sachen. Schmerzvolles für Körper und Seele. ↓↓↓ (weiter im Kommentar)
Die Autorin erzählt eindrücklich und ungeschönt, nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Der sprichwörtliche Kampf ums Überleben nimmt sich selbst beim Wort.
Und trotz der vielen verstörenden Bilder erzeugt die Autorin mit ihrer Erzählkraft einen unglaublichen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Der Inhalt wird zu einem Mix aus jugendlicher Unschuld, bitterem Sarkasmus und der brutalen Härte, die der Alltag bereithält, eingepackt in eine Sprache, die sich einer Poesie nicht entziehen kann.
In diesen wenigen Seiten des Romans steckt ein Großteil des Lebens von Haiti, wie wir es auf Hochglanzprospekten niemals finden werden. Knapp und prägnant eröffnet uns Jean d’Amerique das wahre, bittere, armuts- und kriminalitätsdurchtränkte Land.
Ganz große Leseempfehlung für diesen Roman, der teilweise schockieren mag, aber unbedingt gelesen werden will, ja muss.