Produktdetails
  • Verlag: W&N
  • Seitenzahl: 279
  • Erscheinungstermin: September 2006
  • Englisch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 432g
  • ISBN-13: 9780297852247
  • ISBN-10: 0297852248
  • Artikelnr.: 20845093
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. für seine Erzählungen erhielt McCann, der heute in New York lebt, zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award for Irish Literature sowie den Rooney Prize.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007

Sing, Frau, und dichte, aber schreibe nicht
Colum McCann erzählt Zolis Geschichte / Von Verena Lueken

Wenn man ein totes Pferd von einer auf die andere Seite dreht, gluckert das Blut in seinem Innern wie das Wasser in lange nicht benutzten Rohren. Das ist eine der erstaunlichen Beobachtungen, die Colum McCann in seinem neuen Roman "Zoli" mit uns teilt. Sie ist nur das, eine Beobachtung ohne Hintersinn, ohne metaphorischen Mehrwert, ohne Gefühlsüberwölbung. Und es ist eine Beobachtung aus einer anderen Welt. Wer hievt schon ein totes Pferd herum?

"Zoli" ist der Roman einer Flucht - erst im Wohnwagen, den das Pferd gezogen hatte, dann zu Fuß, manchmal mit dem Zug, manchmal einem Transporter, einem Motorrad, einem Jeep, über Land, in Städte und aus Städten hinaus, über Grenzen, Berge und weitere Grenzen, vor den Faschisten, vor den Kommunisten, vor den eigenen Leuten, vor Kindern, vor Bauern, vor einem Mann und vor der persönlichen Geschichte, die für einen Augenblick so glorreich schien. Zoli, die Titelfigur, flieht mit kurzen mehr oder weniger glücklichen Unterbrechungen ihr ganzes Leben lang. Sie ist eine Zigeunerin, am Anfang noch ein Kind, das mit seinem Großvater in der Tschechoslowakei den Hlinka-Banden entkommt, später eine junge Frau, die singt und dichtet und die Revolution vorantreiben soll, die ihre Lieder und Gedichte aufschreibt und damit die alten Bräuche verrät und die von ihren Freunden und einem Mann, der sie liebt, ihrerseits verraten wird; am Ende ist sie eine alte Frau, und sie findet endlich ihre Stimme.

Lässt sich diese Geschichte jenseits der Klischees erzählen? Es ist dieselbe Frage, die sich schon bei McCanns letztem Roman "Der Tänzer", einer fiktiven Biographie von Rudolf Nurejew, stellte, und damals hieß die Antwort: Ja, McCann gelingt das. Der irische Autor, der seit langem in New York lebt, hat sein Schriftstellerleben lang gegen Klischees angeschrieben und es sich dabei nicht leichtgemacht. Das erste Klischee, das er bekämpfte, war das des "irischen Schriftstellers", und also schrieb er über alles Mögliche, über Mexiko etwa und den Hoch- und Tiefbau in New York, bevor er zum ersten Mal (in der starken Erzählsammlung "Wie alles in diesem Land") aus seinem Heimatland erzählte. Jetzt hat er sich, wie beim "Tänzer", wieder mit aller Vorstellungskraft und Recherchearbeit in ein Thema und eine Welt hineingewühlt, die so weit von Irland entfernt liegt wie der Mond, die Welt der Roma im östlichen Europa. Und doch ist das Thema, um das es im Innern geht, in McCanns Werk nicht neu. Es sind die Exilierten und was sie zurücklassen, was McCann interessiert. Aber dass es hier eine Roma ist, deren Geschichte sich von den dreißiger Jahren bis ins Jahr 2003 streckt, eine Roma, die singen kann und dichten und das Schreiben von ihrem Großvater gelernt hat, was allein sie schon zur Außenseiterin macht, und die, weil sie aufschreibt, was nur zur mündlichen Überlieferung und damit zur ständigen Veränderung gedacht war, verstoßen wird - das ist für einen Schriftsteller schon eine Mutprobe angesichts der lauernden Kitschfallen.

McCann tappt in einige, aber nicht in alle. Die Frauen tragen viele lange Röcke übereinander, flechten Münzen in ihr Haar, waschen sich nur in fließenden Gewässern oder gar nicht, tanzen, trinken, binden ihren Babys rote Bänder ums Handgelenk, es riecht nach Holzrauch und feuchter Erde, wie sollte es auch anders sein in einer solchen Geschichte? In dieser vielleicht unvermeidlichen, für den Leser mühsamen Folklore aber hält McCann verschiedene Bewegungen und Gegenbewegungen in Gang, die "Zoli" dann doch interessant machen. Er folgt der Bewegung Zolis aus der nur mündlichen Tradition, in der Frauen nicht viel gelten, in die Welt der Schrift, was eine Befreiungsbewegung ist und ein Verlust. Er zeigt, wie der Verstoß Zolis aus ihrer Sippe sie zu dem macht, was wie vorher gar nicht war, nämlich zu einer waschechten Zigeunerin, die Hühner stiehlt und für Kunden Steine wirft, um in ihnen die Zukunft zu lesen. Er folgt der Begeisterung für die Revolution, aus der heraus Zoli von einem Dichter und seinem Freund und Übersetzer gleichsam als "neue Frau" entdeckt wird - "wir schufen uns unsere Avantgarde", heißt es einmal -, über ironische Brüche - "Zigeuner, reiht Euch ein!" - in die vollkommene Entzauberung. Er zeichnet Zolis Liebe zu den Traditionen und die Unschuld, mit der sie aus ihnen heraustritt, und die unmögliche Versöhnung. Wer auch immer die Roma zu verstehen versucht in diesem Roman, ist schon dabei, ihr Leben zu zerstören, ihr Erbe zu enteignen.

In "Zoli" sprechen verschiedene Erzähler aus verschiedenen Zeiten, und Zoli selbst sagt als erwachsene Frau auf Seite 255 zum ersten Mal "ich". Für diesen Augenblick lebt der Roman. Doch es gibt Geschichten, die sind besser im Dokumentarischen aufgehoben als in der Fiktion. Das trifft nicht auf alle wahren Geschichten zu, "Der Tänzer" etwa war ein Beispiel dafür. Nach Lektüre von "Zoli" aber scheint es, als sei die Geschichte der Roma-Verfolgung doch eher Stoff für eine klassische, kühle Reportage.

Colum McCann: "Zoli". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbeck 2007. 383 S., geb., 19,90 [Euro].

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