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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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Mieko Kawakamis "All die Liebenden der Nacht"
"Warum ist es nachts so schön? Warum funkelt die Nacht?", fragt die scheue Fuyuko, worauf ihr Geliebter repliziert, dass die Welt nachts nur zur Hälfte existiere: "Im Dunkeln strengt der Rest der Welt sich doppelt an, deshalb ist das Nachtlicht so schön."
Die 1976 in Osaka geborene Schriftstellerin Mieko Kawakami widmet sich in ihrem auf philosophische Weise feministischen Werk mit Vorliebe den Verletzbaren, Träumern und Introvertierten. Nach dem Roman "Sommererzählung" (der hierzulande unter dem Titel "Brüste und Eier" erschien, F.A.Z. vom 19. August 2020), der von body shaming, Selbstoptimierung, Samenspende und alternativen Familienentwürfen handelte, und "Heaven" (über Mobbing in der Schule) ist der in Japan bereits 2011 erschienene Roman "All die Liebenden der Nacht" nun ihr drittes ins Deutsche übersetztes Werk. Es ist eine subtile Erzählung über Wörter, Licht und Existenz.
Im Zentrum steht die introvertierte vierunddreißigjährige Ich-Erzählerin Fuyuko, freiberufliche Korrektorin, Single und Workaholic. Bei einem einsamen Schaufensterbummel in Shinjuku erkennt sich Fuyuko als erbärmliche Frau, die "nicht wusste, wie man lebt". Um ihr ungeliebtes Ich aufzulösen, beginnt sie zu trinken und plant, in einem esoterisch angehauchten Kulturzentrum Kurse zur Lebenshilfe zu belegen. Dort lernt sie den mehr als zwanzig Jahre älteren Mitsutsuka kennen. Bei wöchentlichen Treffen in einem Café kommen sich die beiden in Trippelschritten näher - eine Ode auf die stille Mehrheit unspektakulärer Menschen. In scheinbar banalen Dialogen werden das Wunder des Lebens und "das Rätsel des Lichts", das Mitsutsuka der Heldin erklärt, sichtbar gemacht.
Kawakami sinniert in ihrem Roman aber auch über die Philosophie der Korrektur und das Ideal eines fehlerlosen, des "perfekten" Buchs. Fuyukos Korrekturlesemodus wird auch im Alltag angewandt. Ihr Grundgefühl ist ein Unbehagen ob des bloßen Retuschierens biographischer Romane anderer, des Lebens und Liebens aus zweiter Hand. Die Liebe ist ihr ein von Romanen oder Kinofilmen geborgtes Gefühl, das Leben "ein einziges Zitat". Doch zuletzt begibt sich die Korrektorin, die auch im Privaten ein ruhiges und fehlerfreies Leben führte, selbst auf das erratische Terrain der Liebe.
Die Frauenfiguren im Roman bezeugen die moderne japanische Beziehungsvielfalt. Da wären neben der bindungsarmen Fuyuko ihr Gegenpol. die attraktive Vorgesetzte Hijiri, die die Vorteile von Affären ohne Liebe beschwört. Oder Fuyukos Ex-Klassenkameradin, die Hausfrau Noriko, die das Prinzip "Ehe ohne Sex" vertritt, sich aus finanziellen Gründen nicht scheiden lässt und doch Kinder als "das Wichtigste" bezeichnet.
Zwischen den Zeilen schreibt Kawakami eine Kritik prekärer Arbeitswelten und der Geschlechterverhältnisse, der höheren Wertschätzung von Reproduktion als von weiblicher Teilhabe an der Produktion. Kleidung und Schminke fungieren im Roman als Merkmale von Klassenzugehörigkeit. Als Fuyukos Friseurin die Frau ohne Selbstwertgefühl ihrer Schönheit versichert und sie kostenlos schminkt, entdeckt diese im Handspiegel ein neues Gesicht. Anrufe der Vorgesetzten und Freundin Hijiri während ihrer zögerlich romantischen Treffen mit Mitsutsuka ignoriert sie. Doch als die weltgewandte Hijiri sich später über das unprofessionelle Make-up mokiert und ihr "selbstgefällige Keuschheit" vorwirft, beginnt Fuyukos Gegenwehr und Gegenrede, indem sie auf die Komplexität und Diversität von Gefühlen und Beziehungen verweist. Klassische japanische Jahreszeitenlyrik klingt an, wenn der Duft der Jacke des Geliebten den "Geruch des Winters" evoziert.
Auch wenn die Romanze nicht ewig währt, geht die Korrektorin gestärkt aus dem Fehlschlag der Liebe hervor. Ohne zu werten, zeigt Kawakami konservative oder alternative Lebensentwürfe - als Hijiri schwanger wird, macht sie Schluss mit ihrem Partner, um das Kind allein großzuziehen - im Labyrinth der Moderne auf. In der Schlussszene überkommen Fuyuko erstmals in einer eigenen Eingebung Wörter, die sie in ihr Notizbuch schreibt: "All die Liebenden der Nacht". Die Gemeinschaft der Einsamen in der Nacht und die Solidarität der Träumer stimmen sie zuversichtlich auf die Wiederkehr des Lichts am Morgen.
So ist der Roman neben seiner melancholisch-ätherischen Liebesgeschichte die Geschichte einer Selbstfindung und Emanzipation - von der Korrektorin zur Schöpferin. STEFFEN GNAM
Mieko Kawakami: "All die Liebenden der Nacht". Roman.
Aus dem Japanischen von Katja Busson. DuMont Buchverlag, Köln 2023. 260 S., geb., 24,- Euro.
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