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Anna Baars Roman "Als ob sie träumend gingen"
"Sie müssen sich erinnern!" Immer wieder versucht ein Arzt seinen Patienten auf dessen eigene Lebensgeschichte zu bringen, hat aber keinen Erfolg. Der Mann namens Klee liegt in einer Heilanstalt, die er nie mehr verlassen wird. Klee starrt an die Decke und nimmt die äußeren Hantierungen der Krankenschwestern kaum noch wahr. Zu tief ist er in sich und seinen Erinnerungen versunken. Neben ihm ruht eine Schachtel mit acht Tonkassetten, die wichtige Spuren seines Lebens enthalten. Mit den Worten: "Schreib du meine Geschichte!" gelangt dieses Vermächtnis an den Erzähler, der sich am Anfang und Ende von Anna Baars Roman "Als ob sie träumend gingen" zu Wort meldet.
So klar und einfach diese Rahmenhandlung auch ist, so verschlungen gestaltet sich die darin eingeschlossene Geschichte. "Tatsachen" erteilt die Erzählstimme eine Absage, denn Klees Erinnerungen seien durchmischt mit Einbildungen, Träumen und Erfindungen. Doch das erzählende Ich führt hier nicht allein Regie, sondern auch Klee selbst, von dem es heißt, sein Hirn ersetze "die ausgelöschten Erinnerungen durch Erfindungen". Auch wenn solche poetologischen Bemerkungen mit Vorsicht zu genießen sind, geben sie dem Leser dieses Textes besondere Rätsel auf. Nie kann man sicher sein, "ob Klee die Wirklichkeit nacherzählte oder im Erzählen die Wirklichkeit erst erfand". Der Effekt dieses Verfahrens ist Neugierde, die durch sorgfältige Chiffrierung befeuert wird. Ständig fragt man sich, wo der Bauernsohn Klee aufwuchs, durch welche Kriegshandlungen er traumatisiert wurde, wie er in eine Nervenheilanstalt als letzte Lebensstation geriet. Anna Baar beherrscht virtuos alle Techniken der Wirklichkeitsverschleierung ohne einen dabei völlig ins Leere laufen zu lassen.
Wie schon ihr Debüt "Die Farbe des Granatapfels", mit dem die Autorin 2015 beim Bachmannpreis antrat, führt auch der zweite Roman an die kroatischen und montenegrinischen Küsten. Die in Zagreb geborene, in Wien und Klagenfurt aufgewachsene Autorin verbrachte längere Zeit auf der Insel Brac. Die Heilanstalt Daleko, in der Klee liegt, befindet sich irgendwo in dieser trockenen Region am Rande des "Karsts". Der an sieben Stellen erwähnte Ortsname ist aber erfunden, er dient als Resonanzraum für Erinnerungen, denn noch manches Rufen und Schluchzen sei, so heißt es, wohl noch dort oder bis im montenegrinische Kotor zu hören. Wenn einmal "Daleko ist weit" im Text steht, handelt es sich nur vordergründig um eine Ortsangabe, denn "daleko" bedeutet in slawischen Sprachen "weit", im Kroatischen auch "weit von der Kindheit entfernt".
Genau um diese Entfernung von der Kindheit geht es in den ungeordneten assoziativen Erinnerungen Klees, die angesichts aktueller Ereignisse hervorbrechen: "Ein neuer Krieg begann", heißt es gegen Ende, und "sein Krieg ist fünfzig Jahre her". Ganz diskret ist damit der Zeitraum zwischen dem Kroatien-Krieg von 1991 bis 1995 und dem Überfall der Mussolini-Truppen auf Teile Dalmatiens 1941, die anschließende Volksbefreiung, die erneute Besetzung durch die faschistische Ustasa 1943 und die deutschen Truppen 1944 angedeutet. Klee, inzwischen Mitte siebzig, hat wie seine drei Brüder und alle anderen Dorfbewohner viel Schreckliches erlebt. Immer wieder tauchen in seinen Erinnerungen schwarz gekleidete Männer auf, die Bücher verbrennen, vergewaltigen und töten. Der "Totenkopf auf Helm und Mantelkragen" weist sie unverkennbar als Angehörige der SS aus.
Kriegstraumata sind das eine in diesem sprachmächtigen Roman, die Liebe das andere. Vom ersten Kapitel an steht eine Frau namens Lily im Zentrum. Sie wird dem Dorfarzt von einer "Leihmutter" geboren, bei einer Mutprobe am Meer bleibend versehrt, von den Besatzern gedemütigt und von der Hebamme um ein ungewolltes Kind erleichtert. Sie, die er nie gewinnen konnte, war Klees eigentliche Geliebte, sie, und nicht seine Frau Ida imaginiert er in der Heilanstalt an seinem Bett. Die Phantasie von einer Schneeballschlacht mit Lily, die sich in dieser immer warmen Region den vorgelesenen Büchern über den Norden verdankt, durchzieht Klees Erinnerungen ähnlich konstant wie die Trauer seines Bruders Malik um ein totes Maultier.
Anna Baar ist ein großer Roman über das Erinnern gelungen. Die Beobachtung, dass manchmal die Rückbesinnung auf einen einzigen letztlich unbedeutenden Tag das ganze Leben verdichten kann, belegt dieses Buch ähnlich schlüssig wie die These von der Wahrheit als Zumutung. Nicht aus dem bloßen Augenschein ist sie nämlich zu gewinnen, sondern nur aus der allmählichen Vergegenwärtigung, die sich aus einer langsamen sprachlichen und literarischen Verfertigung ergibt. Nur "manchmal, blitzschnell" vermag Klee "das schon Gelöschte wiederherzustellen". Dann sind wir gefordert, in wiederholender, ordnender Lektüre die Ausgangsfrage des Arztes zu beantworten, für die er sich selbst keine Zeit nimmt: "Wie hat das angefangen?"
ALEXANDER KOSENINA
Anna Baar: "Als ob sie träumend gingen".
Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 208 S., geb., 20,- [Euro].
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