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© Perlentaucher Medien GmbH
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Charlie Kaufman, bekannt für verrückte Filme, hat einen noch verrückteren Roman geschrieben: "Ameisig" strapaziert die Leser bis zur Erschöpfung.
Als John Barth 1967 seinen Essay "The Literature of Exhaustion" schrieb, geißelte er damit eine überkommene Vorstellung von poetischem Realismus, der auf geschlossener Illusion beruht. Es war ein Startschuss für die amerikanische Metafiktion, die in wilder Übertreibung von Laurence Sternes Shandyismus ausufernde Werke wie (neben Barths eigenen) Thomas Pynchons "Gravity's Rainbow" (1973), David Foster Wallace' "Infinite Jest" (1995) und Joshua Cohens "Book of Numbers" (2015) hervorgebracht hat. Mit Charlie Kaufmans Romandebüt "Antkind" (2020), das nun auf Deutsch als "Ameisig" erscheint, könnte der Eindruck entstehen, dass auch die amerikanische Metafiktion sich erschöpft hat.
Wer Kaufmans Drehbücher ("Being John Malkovich", "Adaptation") sowie Regiearbeit ("Synecdoche, New York") für schräg bis unverständlich hält und vielleicht genau darum sehr schätzt, der kommt, bei aller Liebe zur formbewussten und formsprengenden Erzählkunst, mit "Ameisig" an die Grenze des Verdaulichen. Der geheime Tunnel, der im Film in John Malkovichs Kopf führte, führt hier in den eines Filmkritikers namens Balaam Rosenberger Rosenberg, der sich ständig vor einem "imaginären Hörsaal voller Cineasten" sieht. Das gibt ihm die Lizenz zu einem fast neunhundert Seiten langen Vortrag zur Film- und Literaturgeschichte, ach was, zur gesamten Kulturgeschichte, der lauter Mini-Rezensionen voller böser Seitenhiebe enthält - darunter auch einige von Kaufmans eigenen Filmen, die genüsslich verrissen werden.
Man stelle sich eine als unmöglich zu lösen gedachte Aufgabe in einem Kurs für kreatives Schreiben vor, die lautet: "Bringen sie Shakespeare, Hitchcock, Beckett, Bosch, Popeye, Picasso und Fukada in einem Text zusammen, unter besonderer Berücksichtigung des Doppelgängermotivs seit der Antike." Kaufman löst sie mit Sternchen, indem er auch noch die spanischen Rektangulisten und die barcelonischen Rapturisten mit einbezieht. Von Letzteren noch nie gehört? Das könnte daran liegen, dass sie nur erfunden sind - oder zumindest nur geträumt, so wie ein Großteil des Romans, der eingestandenerweise Halluzinationen oder gar eine "psychotische Depression" beschreibt.
Man stelle sich Woody Allens sämtliche Neurotikerfiguren zusammengepfercht auf einer Guckkastenbühne vor, auf der auch noch sexualisierte Film-Ameisen sowie die Roboterarmee eines Präsidenten namens Donald Trunk auftreten. Das ist unmöglich in einer Rezension des Buches auf einen Nenner zu bringen, aber immerhin einen Handlungskern gibt es: Rosenberg kommt in Florida einem verschollenen Filmmeisterwerk des mysteriösen Ingo Cutbirth auf die Spur, das drei Monate dauert. Am zwanzigsten Ausstrahlungstag stirbt der Regisseur; beim Versuch, gegen dessen Willen das Werk nach New York zu überführen, verbrennt der Film. Wie immer in der Metafiktion geht es auch ums Scheitern: Hier scheitert der Erzähler daran, die Kritik des besagten Films zu schreiben, kommt aber immerhin zu der Erkenntnis, "dass die Erinnerung an den Film der Film ist".
Nebenbei - oder eigentlich in der Hauptsache? - ist "Ameisig" eine Parodie des Filmgeschäfts in Zeiten der Identitätspolitik und eine Satire vom gebildeten alten weißen Mann, der, geschult in Jahrzehnten der Sensibilitätsdiskurse, sich für besonders "woke" und rücksichtsvoll hält und vielleicht genau damit Ressentiment und Rassismus kaschiert.
Das Buch macht sich indessen unkritisierbar, da es den Erzähler überdeutlich als Karikatur darstellt und zudem die Kritik an ihm schon vielfach vorwegnimmt: "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich lächerlich bin", gesteht der Erzähler ein. "Gerade so, als wäre ich selbst eine Puppe, bestimmt durch eine äußere Kraft, geschrieben als Kontrastfigur in einem kosmischen Unterhaltungsstück." Ohne Frage hat "Ameisig" Witz und Schärfe (großartig etwa die Schilderung eines Test-Filmscreenings vor Netflix-Agenten), aber es bleibt das Gefühl, man habe sehr viel Rohmaterial gesehen, dass noch auf den Schnitt wartet.
JAN WIELE
Charlie Kaufman:
"Ameisig". Roman.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Carl Hanser Verlag, München 2021. 864 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Debütroman des Drehbuchautors von "Being John Malkovich" ist ein Feuerwerk aus Komik und Melancholie." Caroline Fetschner, Tagespiegel, 20.06.21
"Charlie Kaufman, bekannt für verrückte Filme, hat einen noch verrückteren Roman geschrieben: Eine Parodie des Filmgeschäfts in Zeiten der Identitätspolitik und eine Satire vom gebildeten alten weißen Mann, der, geschult in Jahrzehnten der Sensibilitätsdiskurse, sich für besonders "woke" und rücksichtsvoll hält und vielleicht genau damit Ressentiment und Rassismus kaschiert." Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.04.21
"Ein Meisterwerk der Melancholie - und ein wahnsinniges Vergnügen." Süddeutsche Zeitung, 08.04.21
"Hier verstört jemand mit Leidenschaft. Kaufman und 'Ameisig' verdienen Respekt bis zum letzten Wort." Peter Pisa, Kurier, 20.03.21
"Ein Versuch, die Megaromane des 20. Jahrhunderts mit der Bewusstseinsmaschine des Kinos zusammenzuführen.Kaufman schickt einen dezidiert nichtidentischen Doppelgänger ... auf eine fantastische Reise." Bert Rebhandl, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.03.21