Von den Wilden lernen
Was, wenn nicht ein Buch, als Nachspiel zum Bären-Ereignis, das so extrem, so einzigartig ist! Denn wer hat je davon gelesen, dass die Angegriffene, schwer verletzt, den bärenstarken Angreifer in die Flucht schlägt? Von daher alle Punkte für die Autorin.
Das Ereignis hat,
wie alle extremen, zwei Seiten: die schlechte ist die körperliche Verwundung von Frau Martin, die gute…mehrVon den Wilden lernen
Was, wenn nicht ein Buch, als Nachspiel zum Bären-Ereignis, das so extrem, so einzigartig ist! Denn wer hat je davon gelesen, dass die Angegriffene, schwer verletzt, den bärenstarken Angreifer in die Flucht schlägt? Von daher alle Punkte für die Autorin.
Das Ereignis hat, wie alle extremen, zwei Seiten: die schlechte ist die körperliche Verwundung von Frau Martin, die gute ist die einzigartige Gelegenheit, daraus eine Erzählung zu machen, die sie, so scheint mir, zu einer vielgelesenen und vielgepriesenen Schriftstellerin gemacht hat.
Aber da ist ihre Lebenskrise, ihr zwiespältiges Verhältnis zur modernen Welt. Jedenfalls ist es ein Leiden an der Welt, das schon vor dem Ereignis bestand, jenseits der monatewährenden Schmach, die sie empfindet, wenn die Öffentlichkeit mitleidsvoll ihrer kaum verheilten Wunden gewahr wird. Einerseits ist sie die Wissenschaftlerin, französischer clarté verpflichtet, die sich vorgenommen hat, anthropologische Feldstudien unter dem Gesichtspunkten der „Alterität, Insularität, Liminalität“ im unwirtlichen Kamtschatka zu machen. Wissenschafts-konform sieht sie das Bären-Ereignis folglich als ein zufällig-mögliches, wenngleich extrem unwahrscheinlichen Ereignis. Ihr Studienobjekt ist eine zurückgebliebene, ungebildete Jäger und Sammler-Welt, wo allenfalls der Kühlschrank und (wen wundert‘s) das Smartphone an die herkömmliche Welt erinnern...
Andererseits fasziniert sie das Leben dieser Leute, ihr direkter Zugang zur Natur, ihr Glaube an Übersinnliches, Metaphysisches. So wird aus dem Bären als Aggressor der Bär der Erlöser, der ihre wunde Seele heilt; insofern die Begegnung natürlich keine zufällige, sondern vorherbestimmte ist, eine Sichtweise, der man sich, a posteriori eines extremes Ereignisses, zugegebenermaßen nur schwer entziehen kann. Zeichen und Vorzeichen werden bemüht, um das Ereignis zu deuten. Und am Ende wird aus dem Angriff des Bären ein etwas gewalttätiger Kuss, der sie erlöst, ihre Seele transzendieren lässt (als Tierfreund stellt sich mir übrigens die Frage: was ist aus dem Bären geworden? Den sie, folgt man ihrer Darstellung, nicht unerheblich verletzt hat? Er dürfte in keiner Klinik, weder einer russischen, noch einer französischen behandelt worden sein).
Die Erzählung hat mir auf den ersten 100 Seiten gefallen. Danach, als alles mehr oder weniger um ihre Befindlichkeit kreist, hatte ich Mühe, weiterzulesen. Für meinen Geschmack nahmen Mythen, Determinismus, Naturromantik oder wie immer man ihre Hingabe an das „Wilde“ nennen mag, überhand. Vieles habe ich dann auch nicht mehr verstanden, vor allem wenn es um ihre Erklärung der Welt ging; es wurde dunkel, wo Licht die bessere Lösung gewesen wäre. Denn was heißt das, am Ende der Erzählung: Die Ungewißheit: ein Versprechen von Leben??