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Ein wildes Herz: Das Buch "Astragalus" von Albertine Sarrazin erzählt von Schmerzen und dem aufrechten Gang
Grenzenlos ist der Freiheitsdrang der Albertine Sarrazin. Sie haut immer wieder ab, geht stehlen und auf den Strich, stets auf eigene Rechnung, die Quittung sind die Haftstrafen. Im Buch trägt die icherzählende Heroine den Namen Anne, unkaschiert ist sie das Alter Ego Albertines, und ihr zerbrochener Fuß wird zum Zeichen einer wilden Existenz, zum Symbol eben, in dem Sehnsucht und Beschädigung mit unbedingtem Überlebenswillen und samtiger Hingabe verschmelzen. Denn so tief ist ihre Liebe zu Julien, dem Mann, der sie eingesammelt hat auf der nächtlichen Landstraße, mit dem zerschundenen Bein, ihrer "Haxe", die ihr Schicksal bestimmt.
"Der Himmel war mindestens zehn Meter weiter weg", heißt der erste Satz des Buchs "Astragalus", das Albertine Sarrazin im Gefängnis schrieb. Astragalus ist der lateinische Name für das Sprungbein, jenen Knochen, der Bein und Fuß so biegsam verbindet, dass ein Mensch gehen, laufen, wegrennen oder auf Bleistiftabsätzen balancieren kann. Anne ist gerade von der zehn Meter hohen Mauer des Gefängnisses gesprungen, in dem sie eingesperrt war nach einem Raubüberfall; der Sturz zertrümmert den Astragalus. Es ist das Jahr 1957, sie ist neunzehn Jahre alt.
Albertine Sarrazin wurde als Kind einer fünfzehnjährigen Spanierin und eines unbekannten Vaters in Algier geboren, zur Adoption freigegeben, kam sie zu einem französischen Militärarztehepaar; von einem Verwandten wird sie mit zehn Jahren vergewaltigt. Die Adoptiveltern schieben das unzähmbare begabte Mädchen in eine Besserungsanstalt ab. Ihre kriminelle Karriere beginnt und ihr Schreiben gegen das innere Absterben auch, fast die Hälfte ihres kurzen Lebens verbringt sie hinter Gittern, dort entsteht von April bis August 1964 "L'Astragale". Als das Buch 1965 in Frankreich erscheint, beginnt ihr Stern zu leuchten, sie ist auf der Straße des Ruhms; keine Geringere als Simone de Beauvoir hat sich für sie eingesetzt.
Jetzt hat Patti Smith, die Madonna des Rock 'n' Roll und godmother jeglicher Entgrenzung, die sich selbst 1977 bei einem Sturz von der Bühne beinah das Genick gebrochen hätte, ein Nachwort verfasst, das Albertine zu ihrer Leitfigur erklärt: "Die Heilige Albertine mit der Einwegfeder und dem unerschöpflichen Kajal. Ich lebte ganz in ihrer Sphäre." Und es ist schon so, dass es kein Entrinnen gibt vor diesem Buch, vor seiner mutigen Märtyrerin, mit ihren Schmerzen aus Liebe und gebrochenem Knochen. Und dass in "Astragalus" astrum aufgehoben ist, was im Lateinischen ja "Stern" heißt, passt.
Wer nicht mit Anne hinkt, leidet, jubelt, trinkt, raucht und kämpft, der hat kein Herz. Der hat vor allem kein Gespür dafür, was eine junge Frau von sechsundzwanzig Jahren, die eine vom Leben Gezeichnete ist, da mit der Sprache anstellt, aus dem Eros der scharfen Beobachtung heraus, bei zugleich blühender Einbildungskraft. Das schwingt auch mit in der schönen Neuübersetzung ins Deutsche von Claudia Steinitz. Der Anästhesiefehler bei einer Nierenoperation macht Albertine, noch keine dreißig Jahre alt und endlich dabei, ihr Leben zu ändern, zum Liebling der Götter, die sie am 10. Juli 1967 holen. Zehn Jahre zuvor, als Annes, also ihr eigener, linker Fuß am Abfaulen war und die Ärzte im Krankenhaus - für die Julien, der selbst dafür stiehlt, bezahlte - die Haxe retteten, war es ihr nach dem Eingriff wie eine "Auferstehung". Noch viel mehr Lebenszeit hätte sie gebraucht, die in Frankreich schon Mitte der Sechziger, nach ihrem Debüt mit "L'Astragal" und einem weiteren Roman "La Cavale", mit Jean Genet verglichen wurde, was ein Stück weit durchaus einleuchtet.
Ganz am Ende von "Astragalus" ist es so weit: Die entflohene Anne wird in Paris aufgespürt von der Polizei, sie muss wieder ins Gefängnis zurück, im ganz echten Leben für weitere drei Jahre. Anne richtet sich an ihren geliebten Julien: "Mach dir bloß keinen Kopf, auf der leuchtenden Plattform finden wir uns wieder. Einer von uns ist noch auf dem unteren Grat, wir müssen abwechselnd klettern und ziehen, das Ausruhen rückt in weite Ferne ... Egal, ich laufe. Vor dem Bullen gehe ich die Treppe hinunter und humpele kaum." Was für eine Botschaft.
Immer kehrt im Buch jenes "Ich laufe ..." wieder, als ein Mantra der Freiheit, so fragil sie auch sein mag. Es gibt ein wunderschönes Gedicht von Albertine Sarrazin, die ihrer Poesie keine Titel oder Satzzeichen gab. Es besingt den Gang durch die Straßen von Paris, und es heißt dort: "Comme alors la reine / Je cours sans souliers / Aux blancs escaliers / Qu'a noyés la Seine." Da ist es wieder, dieses Laufen, ohne hemmende Schuhe, die linke Haxe vergessend in ihrer versteiften Gestalt einer Puppe - einer Königin gleich.
ROSE-MARIA GROPP
Albertine Sarrazin, "Astragalus". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Mit einem Nachwort von Patti Smith. Hanser Berlin, München 2013. 231 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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"Ein Buch wie einer dieser französischen Gangsterfilme - nur, dass das, was Albertine Sarrazin schreibt, keine erfundene Geschichte ist, sondern ihr Leben." Ulrich Noller, WDR Funkhaus Europa, 01.05.2013