Eine eigene Welt, fern ab, und dennoch nah. Erzähl- und Fabulierkunst vom Feinsten!
Birobidschan, ein jüdisch-sozialistisches Schtetl in Sibirien an der Grenze zu China. Die Stadt in der Jüdisch Autonomen Oblast wurde vor ca. 100 Jahren gegründet, von Stalin zu Stadt erhoben, ein Versuch, wie es
damals hieß.
Scheinbar von der Zeit vergessen birgt sie einen ganz eigenen Kosmos aus ersten…mehrEine eigene Welt, fern ab, und dennoch nah. Erzähl- und Fabulierkunst vom Feinsten!
Birobidschan, ein jüdisch-sozialistisches Schtetl in Sibirien an der Grenze zu China. Die Stadt in der Jüdisch Autonomen Oblast wurde vor ca. 100 Jahren gegründet, von Stalin zu Stadt erhoben, ein Versuch, wie es damals hieß.
Scheinbar von der Zeit vergessen birgt sie einen ganz eigenen Kosmos aus ersten Einwohnern, Zugezogenen oder Vertriebenen. Die geschichtlichen Hintergründe und historischen Begebenheit lässt der Autor gekonnt außen vor. Es dreht sich vielmehr um die kleine Welt, um ein paar Menschen, die dieses kleine Universum auf ihre eigene Art und Weise mit Leben füllen. Und so setzt der Autor gekonnt das Experiment in seiner Art fort, gestaltet aus der Vergangenheit die Zukunft (die Realität war alles andere als schön, wer Interesse hat, das Netz bietet genug Infos hierfür).
Es fühlt sich an, als wäre die Stadt (heute ca. 75000 Einwohner) aus der Zeit gefallen, und befindet sich in einer märchenhaften Blase. Aber die Geister ruhen nicht, treiben um, zeigen sich in zwei realen, mit Geheimnissen umgebenden Männern, die plötzlich erscheinen. Sie geben nur an, sich für Kragenbären zu interessieren, welche es wohl nur in China gibt. Oder ein kleines Mädchen, stumm, welches auftaucht wie ein Geist, und Menschen Dinge tun lässt, aus Verantwortung geboren, entgegen jeder Räson.
Rachel und Alex kennen sich seit Kindheitstagen. Sind zusammen, irgendwie, doch die Blick über den Tellerrand gibt es noch, wenn Rachel mit Joel, Alex' Bruder, …
Was bedeuted Liebe? Was bedeuted Zeit? Wenn doch eh alles vergänglich ist.
Wölfe tauchen auf an Dmitrijs Horizont, weshalb er auch ein Gewehr besitzt, obwohl es weit und breit keine Wölfe gibt. Aber sie heulen. Metapherreich.
Der liebenswerte Boris, ein Urgestein in der Stadt, wird tot aufgefunden. Von Bären zerfetzt oder durch einen Schuss getötet?
Erinnerung fliegen durch die Zeit der Erzählung, mal im hier, mal im damals. Die Sehnsucht nach Flucht, vor der Stadt, vor sich selbst. Vor den eigenen Depressionen wie sie Greogory hat, und sich mit Sascha auf einen Road-Trip begibt.
Die Ereignisse verschwimmen rund um die Protagonist:Innen, aber ihre Leben und Handlungen bleiben etwas Greifbares in dieser sibirischen Oblast, man möchte noch mehr von ihnen erfahren, Teil ihrer Welt werden, in welcher sich Realität und Mystik die Hand geben.
Es mag alles ein wenig verwirrend klingen, aber die große erzählerische Leistung des Autors besteht darin, stets den Überblick zu haben und seine Leser:Innen gekonnt an der Hand durch den Roman zu führen. Er erzählt uns von einer anderen, unbekannten Welt, welche voll ist mit Menschlichkeit in all ihren Facetten. Die historischen Hintergründe benötigt es dazu nicht. Esprit und eine Portion Humor runden diesen herrlichen Roman ab, meines Erachtens völlig zurecht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2023.
Ganz große Leseempfehlung für diesen wahren literarischen Genuss.