Seite 394 "Die Apokalypse fand damals anderswo statt … weit entfernt .... Heute war nicht mehr anderswo "
T.C. Boyle ist zurück – und mit ihm sein bester Roman.
Wie beginnen, wenn man von einem Buch berichten will, das jede Hoffnung verbrennt? Das jenseits einer netten Geschichte, jenseits von
Wohlfühl-malebenzwischendurchlesen-Literatur angesiedelt ist.
Boyle fokussiert hier auf eine…mehrSeite 394 "Die Apokalypse fand damals anderswo statt … weit entfernt .... Heute war nicht mehr anderswo "
T.C. Boyle ist zurück – und mit ihm sein bester Roman.
Wie beginnen, wenn man von einem Buch berichten will, das jede Hoffnung verbrennt? Das jenseits einer netten Geschichte, jenseits von Wohlfühl-malebenzwischendurchlesen-Literatur angesiedelt ist.
Boyle fokussiert hier auf eine Familie – die Eltern Ottilie und Frank, die erwachsenen Kinder Cat und Cooper. Sie lebt an Floridas Küste in einem Strandhaus, er ist Entomologe in Kalifornien. Ausgehend von dieser Familie fächert er auf: zielt zunächst auf den Alltag aller, blickt auf Lebenssituationen und Lebenseinstellungen, immer wertfrei, immer nachsichtig. Sie leben in einer Welt, die massivst von Artensterben und Klimawandel geprägt ist - keiner dystopischen Welt, sondern der Welt in ein paar Jahren? Monaten? Morgen? JETZT?
Da ist die Tochter, die sich einen Tigerpython als Haustier zulegt, um Influencerin zu werden - als Prototyp des heutigen Menschen, auf die eigene Sichtbarkeit bedacht, ignorierend, was um sie herum passiert. Der Sohn, der die Insekten retten will, aber hilflos und versehrt erkennt, dass sein Lebenswerk sinnlos zu sein scheint. Alle klammern sich an ein Zuhause, das untergeht.
Seite 60 "Wenn die Natur auf dem Rückzug war, holte man sie sich ins Haus."
Virtuos zeigt Boyle auf, dass Im Kleinen immer das ganz Große steckt – und kehrt kreisähnlich zurück – das hält den Fortgang immens spannend und hochinteressant.
Was dieser Familie passiert, was die Geschichte hier vorantreibt, das muss selbst erlesen werden, selbst erforscht. Denn durchgehend interpretierbar ist hier sowohl Verhalten als auch Schicksal der Protagonisten – im Grunde sind sie alle metaphorisch besetzt - was hochgradig klug gemacht ist, da es tiefe Bezüge zur realistischen Wahrnehmung leicht macht. Fast jede kleine Szene beinhaltet Wahnwitz, Skurrilität - wie gehen wir mit dem um, was wir uns vertraut machen – Tiere, Umwelt, Mitmenschen? Wie selbstsüchtig, ignorant sind wir? Wollen soviel und scheitern an unser aller Bequemlichkeit.
Das sind riesige Themen, an die sich T.C. Boyle hier heranwagt.
Er stellt die richtigen Fragen, legt den Finger in die tiefen Wunden – dorthin, wo es richtig weh tut – worauf jede:r Pflaster klebt, um es aushaltbar zu machen.
Fasziniert hat mich die Lesbarkeit auf den verschiedenen Ebenen: als sarkastisch-schwarzhumorige Geschichte einer Familie - und als tiefgründig-fatalistische Zukunftsvision. Beide Ebenen sind untrennbar verbunden. Boyle wertet nicht, weder Zustand noch Verhalten. Er zeigt auf. Vertraut auf die Intelligenz der Leser:innen. Und das ist schmerzhafter als jeder erhobene Zeigefinger.
Blue skies ist pessimistisch. Und das tut weh und ist oft bitter und schwer auszuhalten. Kann ich Tröstliches finden? Nein. Blue skies kein Märchen. Aber ich kann lesen und verstehen. Und handeln, soweit handeln noch Nutzen bringt.
Der Roman des Jahres? Für mich ja. Aber diese Kategorisierung greift zu kurz: vielleicht der Roman des Jahrzehnts, des Jahrhunderts – sofern die Zeit noch bleibt.
Seite 223 "Die Presse nahm das gern auf : noch eine schlimme Geschichte, die zu den anderen schlimmen Geschichten hinzukam, aber nach ein paar Tagen vergessen sein würde"
✒️ wie immer grandios übersetzt aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren