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Inkubationszeit: Ernst Jandls Briefe aus dem Krieg
Aus der Kaserne von Olmütz schreibt der Rekrut Ernst Jandl Anfang August 1943 an seine Eltern und seine beiden jüngeren Brüder in Wien: "Wir haben nahezu keine Freizeit, immer putzen, putzen und wieder putzen . . . Draußen bist du wenigstens halbwegs ein Mensch." Der Achtzehnjährige hatte im Frühjahr die Gymnasialzeit mit der Matura abgeschlossen, und seine Erfahrungen als Rekrut teilte er mit so manchem Abiturienten seiner Generation: den Überdruß am geistlosen Drill in der Kaserne, den inneren Widerstand gegen die Versuche, das Individuum zum willenlosen Empfänger und Ausführenden von Befehlen zu dressieren.
Aber aus den von Klaus Siblewski erstmals herausgegebenen Briefen aus Krieg und Gefangenschaft und den gleichzeitig entstandenen poetischen Texten winkt uns noch nicht der spätere Großmeister des Sprachspiels und -experiments, der visuellen Gedichte und Lautcollagen, der die Sprechblasen durchlöchernde und die Doppeldeutigkeit der Wörter enthüllende Poet, nicht der Autor einer "Sprechoper" entgegen. Dennoch setzt mit einigen Textzeugnissen dieser Jahre schon die Inkubationszeit des Sprachoperateurs Jandl ein.
Die körperlichen Strapazen und die Stumpfheit des Dienstes können dem Lektüredrang des Soldaten Jandl nichts anhaben. Aber seine literarischen Interessen sind offensichtlich noch ganz bestimmt vom Deutschunterricht in der Schule, der nach dem sogenannten "Anschluß" Österreichs im Frühjahr 1938 wohl eher von Berlin als von Wien aus reglementiert wurde. Nicht einen einzigen österreichischen Autor erwähnt der Briefwechsel. Greifbar sind ihm sogenannte "Feldpostausgaben" von Autoren; ihn reißen die "unendlichen Schönheiten" der Gedichte von Mörike und Hölderlin und die "wunderbaren Balladen" von Börries von Münchhausen hin.
Daß ihn die Verse dieses Restaurators der Ritterballade bezaubern und daß in einem kurz nach der Matura entstandenen Gedicht, "Vor der Entscheidung", mächtig die Ritter- und Heldenballade nachhallt, zeigt ihn noch ganz im Bann des Deutschunterrichts. Doch bläht auch ein konventioneller, jugendlicher Poetisierungsdrang die Segel der Sprache Jandls, so in der Bekenntnisprosa "Gertrude". Nicht von ungefähr bleibt dieser Text Bruchstück. Die Sprache des jungen Lyrikers ist erschöpft, weil er schon zuviel "Ewigkeits"- und "All"-Poesie verbraucht hat.
Ganz anders dagegen das Gedicht, das er bei der Feier eines Reserveoffizierslehrgangs vorträgt:
Kotverkrustet, ausgemergelt,
wankt in wundenmüdem Tritt
graues Heer durch graue Straßen
und ich wanke mit . . .
Lippen, schmerzensmüd zerbissen,
Haar zerrauft und stur der Blick,
lumpeneingehüllt zerrissen -
stumm wanke ich mit . . .
Weiter geht es. Endlos, ewig
pulst der gleiche dumpfe Schritt
durch die Menschen aller Zeiten.
Doch ich - geh nicht ewig mit.
Diese Verse waren eine Brüskierung; Offiziere, Feldwebel und Unteroffiziere verließen wortlos den Raum. Der Skandal bestand in der völligen Deklassierung jenes Klischees von frohgemuter Tapferkeit des deutschen Soldaten, das die Kino-Wochenschauen, die Berichte der Propagandakompanien oder die Frontblätter den Menschen immer noch einzubleuen versuchten. Das Gedicht bei einem Offizierslehrgang vorzutragen hieß, mit dem Feuer zu spielen. So etwas galt als Ausdruck von Defätismus und kam mit zunehmender Verdüsterung der Kriegslage leicht in den Verdacht der "Wehrkraftzersetzung", und welche Folgen solcher Vorwurf haben konnte, erfuhr der junge und an den Folgen dann auch früh verstorbene Schauspieler und Dichter Wolfgang Borchert in der Strafkompanie.
Das titellose Gedicht nimmt fast prophetisch Bilder vom Rückzug geschlagener deutscher Truppen oder vom Marsch in die Gefangenschaft vorweg, und es kündigt am Ende die willenlose Gefolgschaft auf. Es ist, trotz der grammatisch noch geregelten Sprache und trotz der Vers- und Reimform, ein kühner Protest des Achtzehnjährigen, ein Vorgriff auf Jandls spätere Demontagen hehrer Kriegsbilder in seinen Sprachoperationen bis hin zum Schützengraben-Gedicht "schtzngrmm".
WALTER HINCK.
Ernst Jandl: "Briefe aus dem Krieg 1943-1946". Herausgegeben von Klaus Siblewski. Luchterhand Literaturverlag, München 2005. 173 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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