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Ein Trostbuch von Flüchtlingen für Flüchtlinge: Johann Hinrich Claussen liest die Bibel neu und liefert damit auch Antworten der Kirche auf zentrale Fragen unserer Zeit.
Es ist ein Versprechen, das in kirchenfernen Zeiten Skepsis hervorruft: In vierzig Stationen will Johann Hinrich Claussen, Theologe und Ratsbeauftragter für Kultur der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Bibel ergründen. Mitten in der Krise der Kirche ein Buch über die Bibel - kann das funktionieren? Die Kirche erreicht immer weniger Menschen und findet keinen überzeugenden Weg, ihnen die biblische Botschaft nahezubringen oder sie überhaupt wieder dazu zu veranlassen, die Bibel zu lesen und ihre Geschichten im kulturellen Gedächtnis zu verankern.
Typisch für die evangelische Kirche ist die pastorale Praxis, die biblischen Aussagen so stark zu vereinfachen und alltagstauglich zu machen, dass vom theologischen Gehalt nichts mehr übrig bleibt. Doch diese Rechnung geht nicht auf: Es gehen trotzdem nicht mehr Leute in die Kirche, und die genaue Lektüre der Bibel rückt zunehmend in den Hintergrund. Dass Bibelkenntnisse der Schlüssel zu unserer Kultur sind, glauben immer weniger. Doch Claussen hebt sich wohltuend von diesen Entwicklungen ab. Er liest die Bibel neu als "Buch der Flucht".
Zu entdecken seien darin "Geschichten, Lieder, Gebete, Klagen und Visionen von Geflohenen, Vertriebenen, Deportierten, Ausgezogenen, Entkommenen, Heimatsuchenden, Migranten und Wanderern aus dem Morgenland". In dieser Lesart spiegelt die Bibel die Dialektik von Eigenem und Fremdem und thematisiert eine der größten Herausforderungen unserer Zeit: den Umgang mit Migration. "Es ist ein Buch von Flüchtlingen für Flüchtlinge", schreibt Claussen, "das Grunddokument des vermeintlich Eigenen ein Buch der Fremden".
Und das führt er eindrucksvoll vor. Überwiegend chronologisch erzählt er die biblischen Fluchtgeschichten nach, es fängt mit der Vertreibung aus dem Paradies an und hört mit der Offenbarung des Johannes auf, spannend geschrieben wie eine Geschichte, die man zum ersten Mal hört. Claussen erinnert an den ersten Flüchtling im Alten Testament: Kain, der nach dem Mord an seinen Bruder Abel fliehen musste. Er schildert den Auszug aus Ägypten und das babylonische Exil, er berichtet über den "heimatlos umherschweifenden Jesus" und die Missionsreisen von Paulus, der allein im Glauben eine Heimat fand.
Dabei geht es Claussen nicht um Vollständigkeit. Es sind Stationen, an denen er kurz haltmacht, mal lässt er die oft langen Bibel-Zitate für sich sprechen, mal geht er tiefer in die historisch-kritische Exegese, mal unterbricht er die lineare Erzählung durch grundsätzliche theologische Reflexionen, etwa über die "Entdeckung Gottes im Unheil" oder die Frage, wie die christliche Lehre heute in Handlung zu überführen ist. Claussen bietet damit nicht nur eine theologische Verarbeitung von Flucht und Vertreibung; er liefert auch eine Antwort der Kirche auf zentrale Fragen unserer Zeit.
Das Christentum beschreibt der Autor als "Theologie der Heimatlosigkeit". Sie stehe für den Glauben an einen "Gott, der auf der ganzen Welt zu Hause ist und zugleich nirgends". So ungewöhnlich ist diese Vorstellung nicht. Sie fügt sich in das christliche Selbstverständnis, "Pilger auf Erden" zu sein, wie der Theologe Paul Tillich einmal schrieb, der vor den Nationalsozialisten floh, seine Heimat verlor und sie im Exil nicht wiederfand.
Und so spiegelt auch Claussen die Widerstände, Zweifel, Entbehrungen und Verfolgungen, denen diese "Wanderer zwischen den Welten" ausgesetzt waren, und den Trost, den sie gefunden haben in den Wundergeschichten, die von Jesus erzählt werden. "Wie könnten wir die Lieder Gottes singen in einem fremden Land?", fragt ein "Exil-Psalm" und veranschaulicht damit die ganze Tragik der Emigration, die Hilflosigkeit, die aus dem Verlust der Heimat entsteht, die Grenzen eines Glaubens, der an ein Land gekoppelt ist.
Als "Übersetzung von Trauma in Schuld" deutet Claussen die mitunter brutalen Geschichten, von denen das Alte Testament erzählt. Es greife zu kurz, es als Buch der Gewalt zu betrachten. Dahinter verbirgt sich in seiner Interpretation etwas anderes, denn die Autoren hätten selbst unsägliches Leid erfahren, sie seien "keine Gewalttäter, sondern Gewaltopfer" gewesen, "also Besiegte, Niedergeworfene, Erschütterte".
Doch hier ist die Bibel noch lange nicht zu Ende. Entlang der Propheten zeichnet Claussen den Weg nach zu einem Glauben ohne Gewalt, einem Gott, der bereut, Geboten, die nicht Rache schwören, sondern Vergebung, Nächstenliebe und Barmherzigkeit predigen. Eine Geschichte der Flucht, aber gleichzeitig nicht darauf reduziert, die Texte zeigen auch das. Es sind Überlieferungen, Mythen, Legenden, die den Menschen helfen, das Leben zu bewältigen. Claussen zeigt, wie berührend die Bibel ist, wie aufregend, empörend, voller Sprengkraft und Trost.
Claussen eröffnet damit auch Lesern, die theologisch nicht kundig sind, einen Zugang zur Bibel; historische Karten und eine Zeittafel im Anhang geben weitere Orientierung. Für Bibelkenner ist das Buch trotzdem nicht langweilig, weil sich die Bibel in der Konzentration auf die Fluchterfahrungen neu liest. Jeder der vierzig Stationen sind Fotos vorangestellt, die Momente der Migration, Flucht und Vertreibung zwischen 1860 und 1950 abbilden - eine gute Idee, die aber leider wohl Sparzwängen des Verlags zum Opfer gefallen ist und die Bilder auf schlechtem Papier in miserabler Qualität zeigt.
Ein wenig zu einfach macht Claussen es sich mit den vielen kritischen Passagen, die sich bei Paulus finden, dem besessenen Konvertiten, dessen Sätze sich mitunter als Ausgeburt illiberalen Denkens lesen: "Für solche politischen Gedanken hatte er weder Interesse noch Zeit." Weitaus schwerer wiegt allerdings, dass Claussen für viele Bibelzitate die modernen Übertragungen von Jörg Zink herangezogen hat und nicht die Originalsprache der Lutherbibel, die so viel schöner, reicher, geheimnisvoller ist. Zinks Übertragungen sind theologisch zwar richtig gedeutet, aber streng genommen machen sie den mythologischen Charakter des biblischen Textes kaputt, weil sie erklären und nicht nur erzählen.
Trotzdem überwiegen die Stärken des Buches, was auch damit zu tun hat, dass Claussen zwar deutlich Position bezieht, aber nie moralisiert. Er tritt hinter die Erzählung zurück und lässt die Bibel sprechen. Man möchte dieses Buch immer wieder lesen - und die Lutherbibel erst recht.
HANNAH BETHKE
Johann Hinrich Claussen: "Das Buch der Flucht". Die Bibel in 40 Stationen.
C. H. Beck Verlag, München 2018, 332 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung, Heribert Prantl
"Ein eindrucksvolles und lesenswertes Buch."
Chrismon Plus, Burkhard Weitz