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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der junge Amerikaner Stuart Nadler glänzt in Erzählungen
Betrug gedeiht am besten unter alten Freunden, denn je enger und vertrauter die Beziehung, desto leichtere Gelegenheit verschafft sie, den anderen zu hintergehen: Man weiß halt einfach, wie er tickt, und deshalb auch, wie man ihn täuscht. Wenn alte Ehepaare also zu Freunden werden, sollten beide Partner sich in Acht nehmen, was für Folgen diese neue Situation zeitigt. Denn mit Erfolg kann nur jemand wirklich Vertrautes einen betrügen.
So ließe sich die Einsicht formulieren, die der junge amerikanische Erzähler Stuart Nadler in seinen Storys vielfach variiert. Zwei alte Freunde beispielsweise, die in bescheidenen Verhältnissen zusammen groß geworden und mittlerweile als Geschäftspartner zu Geld gekommen sind, geraten in Verlegenheit, weil einer der beiden sich eine ziemlich kostspielige Affäre mit der Tochter des anderen leistet, die allerdings, wie er feststellen muss, auf diese Weise nur ihren jugendlichen Lover finanziert und gleichzeitig erfolgreich davon ablenkt, dass seine eigene Ehefrau längst mit dem besagten Freund, ihrem Vater, ins Bett geht. Oder ein Bostoner Ehepaar, Anfang fünfzig, muss nicht nur damit zurechtkommen, dass die Frau ihre neue Lebenslust ohne Hemmung ausagiert, sondern auch, dass sich ihr Sohn zum Studium nach Kalifornien verabschiedet hat, wo er zu unvertrauter Frömmigkeit im Religiösen findet, was sie vor noch größeres Unverständnis stellt. Oder eine Ehefrau stellt ihrem Mann auf Vorschlag ihrer besten Freundin eine Venusfalle mit bezahlter Liebe, in die er prompt hineingeht, was die Ehe zum Zerbrechen, nicht aber die Vertrautheit zum Erliegen bringt, wenngleich sich beide später nie mehr trauen, sich zueinander zu bekennen. Das sind so Dinge, wie sie Stuart Nadler uns ins "Buch des Lebens" schreibt.
Nachdem uns Nadlers spannender Debütroman, der letztes Jahr unter dem unnötig reißerischen Titel "Ein verhängnisvoller Sommer" - im Original heißt das Buch "Wise Men" - auf Deutsch erschien, lustvoll in die Abgründe einer Ostküstenfamilie der fünfziger Jahre blicken ließ, bietet sein aktueller Band sieben Erzählungen, die alle auch um etwas tief Verborgenes kreisen, das in der ordentlichen Mittelklassegesellschaft ebenso unausgesprochen wie unaussprechlich bleibt - und eben deshalb das Familien- und Beziehungsleben prägt. Das "Geheimnis nistete sich in ihrem Körper ein, wie ein bei einer Operation vergessenes Skalpell, eingeschlossen in ihrer Brust, die Haut fest vernäht", heißt es über eine seiner trügerischsten Hauptfiguren. Damit muss sie also fortan leben. Damit aber gewinnt dieser Erzähler auch die Chance, die Naht stichweise aufzutrennen, um ans Eingenistete und Eingeschlossene zu rühren.
Er nutzt sie glänzend. Gleichfalls wie mit dem Skalpell nähert er sich den Figuren und seziert sie Schnitt für Schnitt, ohne ihnen allerdings je ihr Geheimnis zu entreißen. Das überlässt er lieber seinen Lesern: Sobald das Innere, Verletzliche bloßliegt, brechen die Geschichten meist recht unvermittelt ab. Das Ende bilden gern Reminiszenzen, Erinnerungen oder Rückblenden in eine Zeit, da alte Freundschaft noch nichts von Verrat und Betrug ahnen konnte oder musste. Wer also Herzwärme und Trost sucht, der wählt besser andere Lektüre. Wer aber das Fremde im zutiefst Vertrauten kennenlernen will, der wird hier sicher fündig. Nicht umsonst hat die amerikanische National Book Foundation Nadler als einen der besten fünf Autoren unter 35 Jahren ausgerufen.
TOBIAS DÖRING
Stuart Nadler: "Das Buch des Lebens". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Andreas Becker. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 272 S., geb., 19,99 [Euro].
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