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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Das mit Metaphern aufgeladene Gehirn: Andreas Heinz folgt den Spuren der politischen Kontaminierung der Psychiatrie
Die Frage nach der Entstehung der Geisteskrankheiten beschäftigt die Psychiatrie seit ihren Anfängen. Bereits 1807 entwickelte der romantische Mediziner Johann Christian Reil eine Theorie, die sich wie ein roter Faden durch die weitere Geschichte der Psychiatrie ziehen sollte. Demnach besteht das Nervensystem aus zwei Teilen, dem Cerebral-System und dem Ganglien-System. Während ersteres im Gehirn lokalisiert ist und als Äquivalent für Bewusstsein und Vernunft gilt, ist letzteres ein unabhängiges Nervensystem, das für vegetative, unbewusste Prozesse steht. In dieses hierarchische Modell ordnete Reil die Geisteskrankheiten ein: Wird das Ganglien-System nicht mehr durch das Cerebral-System kontrolliert, schlagen seine Impulse ungehemmt zum Gehirn durch. Daraus folgen wilde, irrationale Erregungszustände, die sich als Geisteskrankheiten äußern.
Der Witz dieser Theorie liegt darin, dass Reil ihre politische Konnotation gleich mitliefert. Das Chaos des nach oben strebenden Ganglien-Systems entspricht einer republikanischen Verfassung, während die Herrschaft des Cerebral-Systems einer Monarchie gleicht. Offensichtlich hatten sich die Schockwellen der Französischen Revolution bis in die psychiatrische Theoriebildung fortgesetzt.
Andreas Heinz, Direktor der Psychiatrischen Klinik an der Charité in Berlin und damit ein später Nachfolger Reils, der zu den Gründungsprofessoren der Humboldt-Universität gehört hatte, erwähnt diese Episode in seinem neuen Buch nicht, doch was er bietet, ist eine theoretisch anspruchsvolle Rekonstruktion dieser Verschränkung von psychiatrischer Krankheitslehre und politischer Kontaminierung. Denn mit der Konstituierung der kognitiven Neurowissenschaften im weiteren Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts verfestigte sich die Idee einer hierarchischen Ordnung des Gehirns. Die Hirnrinde stand für Vernunft, rationales Bewusstsein, geistige Gesundheit und die zivilisierte Dominanz des weißen Mannes, die subkortikalen Anteile hingegen für das Unbewusste, Lust, Weiblichkeit, Geisteskrankheit und die vermeintliche Wildheit nichteuropäischer Völker. Weiter zementiert wurde diese Hierarchie durch den evolutionären Entwicklungsgedanken, wonach die biologisch alten, unteren Hirnanteile für primitives Denken stehen, die evolutionär jüngere Hirnrinde für die Zivilisation schlechthin: Ecce cortex!
Die von Heinz treffend gewählte Formel vom "kolonialisierten Gehirn" bedeutet mithin, dass das Gehirn und seine Pathologie mit Metaphern aufgeladen wurde, die - zumindest teilweise - dem kolonialistischen Denken entnommen waren und zu einer Leitidee der Psychiatrie des zwanzigsten Jahrhunderts wurden. Eine wesentliche Erklärung für die Entstehung schwerer psychischer Erkrankungen besagte, dass der innerpsychische Widerstand gegen das Überfluten der Lust und Begierde, die als evolutionär und kulturell primitiv angesehen werden, zu einer Verpanzerung der Persönlichkeit führt.
Solche Überlegungen finden sich sowohl im Schizophrenie-Konzept Eugen Bleulers wie auch in der Psychoanalyse Freuds. Doch während Freud dieses Konzept immerhin kritisch reflektierte, waren die rassistischen Anklänge bei Bleuler, C. G. Jung und anderen Psychiatern unüberhörbar. Heinz weist zurecht darauf hin, dass das "kolonialisierte Gehirn" nicht in der Sphäre der Theorie verblieb, sondern zur Legitimation einer menschenverachtenden Praxis der Psychiatrie diente, die ihren grauenvollen Höhepunkt mit der massenhaften Ermordung geisteskranker Patienten während des Nationalsozialismus fand.
Es geht dem Autor nicht darum, diesem immer noch beschämenden, allerdings gut erforschten Kapitel in der Geschichte der Medizin grundsätzlich neue Aspekte hinzuzufügen, sondern den Hintergrund auszuleuchten, vor dem die Entwicklungen der Psychiatrie nach dem Zweiten Weltkrieg verständlich werden. Im Vordergrund stehen dabei diejenigen emanzipatorischen Bestrebungen, die seit den späten Sechzigerjahren unter dem Stichwort Antipsychiatrie zusammengefasst werden. Heinz hat biographisch beglaubigte Sympathien für diese Bewegung, die die Ursache für Geisteskrankheiten in den repressiven Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft sah und den therapeutischen Hebel eher dort als bei den Patienten selbst ansetzte. Mit der politischen Revolution sollte sich die psychiatrische Reform quasi von selbst ergeben. Das war eine naive Annahme, denn es ist bislang keine gesellschaftliche Ordnung bekannt, in der Geisteskrankheiten verschwunden wären. Dennoch liegt die Aktualität der antipsychiatrischen Bewegung darin, auf soziale Notstände als Trigger für die Auslösung psychischer Erkrankungen hingewiesen zu haben. Gerade im Hinblick auf Migrationserfahrungen, Diskriminierung, Armut und soziale Exklusion werden diese Zusammenhänge durch neuere sozialpsychiatrische Untersuchungen immer wieder bestätigt.
Und doch geht Geisteskrankheit keineswegs ganz im Sozialen auf. Heinz insistiert auf der pathologischen Eigendynamik und dem spezifischen Erleben der Kranken, denen es zu helfen gilt. Daher wäre es auch verfehlt, die diagnostischen Kategorien der Psychiatrie als repressive Fesseln anzusehen. Natürlich handelt es sich dabei um historisch wandelbare Konstruktionen, mit denen in der Vergangenheit auch Unglück angerichtet wurde, aber das heißt nicht, dass sie grundsätzlich falsch oder verzichtbar wären.
Im Klartext heißt das, dass die Psychiatrie nach dem Ende ihrer langen, von Repression gezeichneten Geschichte soziale, individuelle und biologische Prozesse im Auge behalten muss, ohne Geisteskrankheit auf einen dieser Aspekte reduzieren zu dürfen. Letztlich geht es dann darum, in diagnostischer Perspektive so behutsam wie möglich vorzugehen, denn die Überbetonung des einen führt zur Unterschätzung des anderen und damit zum Nachteil der Patienten. Kein Wunder, dass Heinz bei einem solchen flachen Krankheitsbegriff die Neurodiversität ins Spiel bringt und sich dabei auf Helmut Plessner bezieht. Anders als eine klassifizierende Anthropologie geht Plessner davon aus, dass Menschen die Fähigkeit haben, ständig die Grenzen zentrischer und exzentrischer Positionen zu überschreiten, unterschiedliche soziale Rollen einzunehmen und damit die individuellen Spielräume zu vergrößern. Wenn diese Grenzüberschreitung als ein Charakteristikum des Menschlichen gesellschaftliche Anerkennung findet, öffnet das den Blick und die Toleranz für die Diversität von Lebensformen, ohne dass diese in ein Raster von sozialer Konformität eingetragen werden. Leichter gesagt als getan. Das weiß auch Heinz, und daher lautet sein vorerst letztes Wort, dass "der humane Umgang mit psychisch Erkrankten ... immer wieder neu erstritten werden muss". Sein Buch ist eine historisch und theoretisch informierte, höchst anregende Anleitung zu einem solchen Programm. MICHAEL HAGNER
Andreas Heinz: "Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 324 S., br., 24,- Euro.
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