Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Hiroko Oyamadas Roman "Das Loch" erzählt eine traumartige Geschichte aus der japanischen Provinz
Phantastik muss keine ungeahnten Anderswelten schaffen; es reicht auch, die gewohnte Welt ein bisschen zu verbiegen. Kafka war der Meister darin. In seinen Werken wirkt alles vertraut und zugleich ganz fremd, ständig verrutscht das Gewohnte ins Surreale. Jetzt darf man die Japanerin Hiroko Oyamada als verheißungsvolle junge Weltenverbiegerin begrüßen. Drei mit Preisen ausgezeichnete Romane hat die 1983 in Hiroshima geborene Autorin bisher veröffentlicht. "Das Loch", vor zehn Jahren im Original erschienen, ist der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde.
"Ich bin mit meinem Mann hierher aufs Land gezogen", lautet der erste Satz. Längst war die dreißigjährige Asahi mit ihrem Job in der Stadt unzufrieden, weil sie sich als freie Mitarbeiterin zurückgesetzt fühlte gegenüber den Festangestellten. Kein Problem also, die Arbeit aufzugeben, wenn ihr Mann Muneaki nun eine bessere Stelle in der Provinz antreten kann, in der Gegend, wo seine Familie herkommt. Und dann ist zufällig auch noch die Wohnung neben Muneakis Elternhaus frei, in der das Paar mietfrei wohnen kann. Noch vor dem Umzug wird Asahi von einer Freundin beneidet: "Natürlich ist das ein Traum, du bist versorgt, kannst in aller Ruhe die Hausarbeit erledigen, Brot backen, ein bisschen im Garten arbeiten. Du hast es gut."
Aber Achtung, hier wird der Hauptfigur keine feministische Falle gestellt. Es geht auch nicht um das beliebte Thema von Großstädtern, die sich glücklos am Provinzleben versuchen, sondern um ein Befremden anderer Art, das sich langsam einschleicht. Nach einigen Tagen leidet Asahi an einer Mischung aus Langeweile und Sommerhitze, und wenn sie die unaufhörlich lärmenden Zikaden beschreibt, wird die Grenze zwischen äußerem Geschehen und innerem Erleben bereits diffus: "Es ist, als hätte ich eine Zikade verschluckt, die in mir weitersingt."
Und dann diese Merkwürdigkeiten. Der Garten ist nur drei Meter breit, und die Löcher darin wirken so, als hätten die Vormieter auch die Pflanzen mitgenommen. Was ihr Ehemann eigentlich arbeitet, weiß Asahi nicht. Wenn er zu sehr später Stunde heimkommt, vertilgt er wortlos das von ihr aufgewärmte Abendessen und spielt mit dem Handy herum. Von Kontakt mit den Nachbarn wird abgeraten. Die Schwiegereltern sind meist abwesend und ungreifbar. Dafür steht Muneakis Großvater Tag für Tag wie ein lebendes Bild vor dem Elternhaus, mit einem starren zähnefletschenden Lächeln unter dem Strohhut. Unermüdlich wässert er mit einem Schlauch den Garten. Eigentlich müsste alles schon tief unter Wasser stehen.
Verwunschen wirkt auch die schilfige Landschaft am Fluss, die Asahi gelegentlich durchstreift. Eines Tages folgt sie dabei einem schwarzen Tier, das kein Hund, keine Katze und kein Wildschwein ist, seine Definition also gewissermaßen verweigert. Auf der Spur des Tiers fällt Asahi in ein Loch, als wäre sie die hinter dem Kaninchen herlaufende Alice. Aber sie schlägt nicht im Wunderland auf, sondern bleibt stecken in der tückischen, wie für sie abgemessenen Erdhöhle, die offenbar von dem Tier gegraben worden ist.
Und dann gibt es noch eine irreale Gestalt, die gelegentlich durch den Garten huscht - offenbar der von der Familie verheimlichte ältere Bruder Muneakis. Seit zwanzig Jahren vegetiert er in einem Schuppen hinter dem Haus, ein "Hikikomori", also einer jener seltsamen Totalverweigerer in der japanischen Leistungsgesellschaft, die sich aus Lebensangst ganz aus Schul-, Berufs- und Sozialleben zurückziehen. Gegenüber Asahi zeigt sich der unverhoffte Schwager und "bekennende Nichtsnutz" aber überraschend gesprächig. Er ist gut vertraut mit dem namenlosen schwarzen Tier und philosophiert mit Asahi über die Befremdlichkeit der Familienzusammenhänge.
Die aus dem Berufsleben ausgeschiedene japanische Ehefrau erscheint dabei in der Unbestimmtheit ihrer Tage wie eine Geistesverwandte des Hikikomori. Auf der Suche nach dem gefährlichen Loch gehen sie dann beide gemeinsam zum Fluss, an dessen Ufern sich plötzlich Scharen badender, fröhlich lärmender, Tausendfüßler in Flaschen sammelnder Kinder tummeln, als wäre es ein Sommerferientraum - in einer überalterten Gegend, wo kaum noch jemand Kinder hat, wie die Verkäuferin des einzigen Ladens in der Nähe meint. Hat es etwas damit zu tun, dass Asahis biologische Uhr tickt? Magischer Realismus macht's möglich. Immer traumhafter wirkt das Geschehen, bis sich das Elternhaus mit einer kaum überschaubaren Menge von Trauergästen füllt. Der dauerbewässernde Großvater ist plötzlich verstorben.
Die Kunst Hiroko Oyamadas besteht darin, durch atmosphärische Beschreibungen eine Welt zu beglaubigen, die voller Rätsel und unbeantworteter Fragen ist. Asahi selbst stellt keine Fragen, aber sie hält die Augen offen. Ihre präzisen Eindrücke von Menschen und Landschaften wirken stilllebenhaft, als würde ihr eigenes, merkwürdig steriles Lebensgefühl sich ringsum ausbreiten: "Die Pflanzen verströmten eine überbordende Lebenskraft, die umso stärker spürbar wurde, als in dem Garten völlige Windstille herrschte. Ein hochgewachsenes Schilfrohr schwankte hin und her. Auf der Spitze eines sich biegenden Blattes saß ein kleiner Grashüpfer."
Diese eigenartige Mischung aus Lebenskraft und Windstille kennzeichnet das Buch. Die lupenhafte Genauigkeit, die sogar den Läusen tief in die Augen schaut, kann die vielen Unbestimmtheiten und die "Löcher" in der Welt aber nicht erklären. Nur die Frage, warum das ominöse Loch kein Durchgang ins Wunderland ist, beantwortet sich von selbst: Asahi ist schon am Tag des Umzugs in ihrem ganz eigenen Wunderland angekommen. WOLFGANG SCHNEIDER
Hiroko Oyamada:
"Das Loch". Roman.
Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Rowohlt
Verlag, Hamburg 2024.
128 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.