Der Zauberberg der Proletarier
…so nennt ein heutiger Verleger auf S. 26 die Heilstätten Beelitz bei einem Gespräch mit Johanna Schellmann. In den Heilstätten sollten Arbeitern die in menschenunwürdigen Verhältnissen leben und arbeiten mussten, Behandlungen besonders für Lungenkrankheiten
ermöglichen. Da sind wir schon mittendrin in der Geschichte über die Heilstätten, über Frauenleben in der…mehrDer Zauberberg der Proletarier
…so nennt ein heutiger Verleger auf S. 26 die Heilstätten Beelitz bei einem Gespräch mit Johanna Schellmann. In den Heilstätten sollten Arbeitern die in menschenunwürdigen Verhältnissen leben und arbeiten mussten, Behandlungen besonders für Lungenkrankheiten ermöglichen. Da sind wir schon mittendrin in der Geschichte über die Heilstätten, über Frauenleben in der „Kaiserzeit“ und um okkultes Wissen und Hellsichtigkeit. Dieser Roman führt uns an verschiedene Orte – Berlin, West-Berlin, Beelitz, München. Außerdem sind die Abschnitte in Zeitebenen aufgeteilt – 1907- 1909, 1967, 2020. Gerade diese verschiedenen Zeitabschnitte führen aber auch dazu, dass ständig der Lesefluss unterbrochen wird. Wir lesen als ob wir durch den Roman mäandern – und nicht nur durch die Begebenheiten sondern auch durch die Orte, an denen sie stattfinden.
Zuerst treffen wir Vanessa, die Urenkelin Johanna Schellmanns, bei einem Besuch in den früheren Heilstätten Beelitz bei Berlin. Die sind in ein „Creative Village“ umfunktioniert worden mit vielen verschiedenen Baustellen. Vanessa hat eigene Probleme, sie muss ihre Wohnung verlassen – Eigenbedarf - und trifft mit einem Makler zusammen. Sehr interessant hier ist, dass der Makler, der Vanessa bei der Wohnungssuche helfen wird, ein Manuskript ihrer Großmutter gefunden hat. Dabei erzählt er Vanessa, dass sein Vater als Student ihrer Urgroßmutter geholfen hat, ihr Leben im Alter zu bewältigen. Ab da tauchen wir ein in diese oft düstere Geschichte. Um 1907 treffen wir Anna, eine Fabrikarbeiterin, in den Beelitzer Heilstätten. Sie spricht eine geheimnisvolle Sprache. Oft redet sie von Gott und sagt es immer wieder zu allen, die zu ihr auf sehen, dass es Gott sei, der ihr helfe. Sie erinnert sich an ihr Dasein als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin, später wird sie sich wünschen, darüber zu schreiben. Das Treffen mit Johanna Schellmann wird für beide zum Schicksal. Es ist die Kaiserzeit, viele Menschen, auch Ärzte sind inspiriert von okkulten Geschehnissen. Die hellsichtige Anna wird großen Einfluss in der Heilanstalt haben, Menschen fühlen sich zu ihr hingezogen. Sie spricht mit Ärzten und warnt Professor Blomberg und Clemens Schellmann vor gefährlichen Röntgenstrahlen – „diese werden Sie töten“. Sie wird zu spiritistischen Séancen hinzugezogen und fährt dazu sogar nach München zum Arzt Schrenck-Notzing. Dieser Arzt ist damals sozusagen in „Mode“ mit seinen rätselhaften und heimlichen Sitzungen mit verschiedenen Medien, wovon Anna eines wird.
Johanna nimmt Anna später in ihre Familie auf, was zur völligen Entfremdung führt mit ihrem Ehemann, dem Arzt Clemens. Er forscht mit Schimmel, der gegen Bakterien wirksam sein soll und das stößt Johanna ab. Er wiederum schätzt ihre intellektuellen Fähigkeiten in keiner Weise. Sie haben keine Gemeinsamkeiten mehr. Das führt dazu, dass Anna und Johanna sich mehr und mehr annähern. Clemens sieht dies sehr besorgt und befürchtet, dass Johanna seelisch abhängig werden könnte von Anna. Das Thema Beelitzer Heilstätten hat schon viele Veröffentlichungen hervorgebracht. Dort wurden einst Lungenkranke, Soldaten und Prominente behandelt. Im Ersten Weltkrieg waren sie ein Lazarett für verwundete Soldaten
Lenze erzählt ihre Geschichte, indem sie den Schicksalen von zwei Patientinnen und Ärzten folgt. Ihre Prosa ist dicht und eindringlich, ausdrucksvoll und überzeugend. Die Rolle der Urenkelin Vanessa wird überzeugend gezeichnet, besonders die Gefühle, die die Entdeckung des Manuskripts ihrer Urgroßmutter in ihr erzeugt. Der Roman beginnt mit Vanessa und endet damit, dass sie sich entschließt, mit ihrem Vater Weihnachten zu feiern – das Fest der Freude und Erlösung.