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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zwei Autoren, starke Thesen. Aber auf dem ökonomischen Auge sind sie zumindest partiell blind
Wenn sich eine führende Historikerin und ein meinungsstarker Publizist zusammentun, um über die Folgen der ökologischen Krisen zu schreiben, klingt das nach dem Versuch eines großen Wurfs. Hedwig Richter und Bernd Ulrich sind so etwas wie eine Supergroup der Nachhaltigkeit. Die Geschichte sei dominant für unser Handeln und Menschenbild, unser Zeitalter so schnelllebig, dass ein Chronist des Jetzt Einsichten liefern könne.
Richter und Ulrich machen sich einen stimmigen Reim auf die Transformation. Davon zeugen seine Einlassungen in der Wochenzeitung "Die Zeit" und ihre Gastbeiträge, Vorträge und Tweets. Sie begreifen die Klima- und Biodiversitätskrise als die zentrale Herausforderung unserer Epoche. Deshalb nennen sie diese das ökologische Jahrhundert.
Bürger und Politik müssten eine neue Denkart mit neuem Vokabular erlernen. Die Kämpfe des 20. Jahrhunderts, die durch den Konflikt von Kapital und Arbeit und den Widerstreit der Nationalismen bestimmt waren, seien nicht vorbei. Das defekte Mensch-Natur-Verhältnis aber folge der Logik einer Grammatik des 21. Jahrhunderts.
Das ist augenöffnend, doch eine solche Zäsur birgt für Autoren ein Risiko. Wer Geschichtsschreibung in dem Moment betreibt, in dem sie sich ereignet, läuft Gefahr, falsch zu gewichten. Die Autoren sind sich dessen bewusst. Die Grammatik des 21. Jahrhunderts müsse im Gehen geschrieben werden, räumen sie ein. Ihre Leitfrage lautet: Warum gelingt es Industrieländern nicht, sich von der ökologischen Selbstzerstörung zu befreien? Der Buchtitel ist ein Versprechen auf Abhilfe.
Zentraler Aspekt ist der Befund, dass Normalität die Quelle der ökologischen Katastrophe sei. Ändere sich das Verhalten nicht schnell, werde die Nachhaltigkeitswende scheitern. Doch die Politik setze auf Normalitätssimulation, um das zu verschleiern. Besonders kritisch bewerten sie Bundeskanzler Scholz und seine SPD, die einen zumutungsfreien Ausweg anstreben, wo aus ihrer Sicht politische Zumutungen erforderlich sind.
Ihre Erzählung funktioniert gut, wenn sie sich auf heimischem Terrain bewegen: in der historischen Aufarbeitung des fossilen Wohlstandsmodells und in der politischen Bewertung handelnder Personen. Besonders stark ist das Kapitel zur sozialen Frage der Ökokrisen, in dem sie ihr eigenes Milieu analysieren. Es lasse sich Wasserkisten von schlechter gebildeten und bezahlten Menschen in den vierten Stock der Altbauwohnung schleppen, um ihnen dann zu erklären, wie schlecht billiges Fleisch und Flüge nach "Malle" seien. So werde ihm der Vorwurf der Heuchelei gemacht. "Es ist schwer vorstellbar, wie sich die westlichen Gesellschaften aus der ökologischen Unmündigkeit und Bedrückung befreien sollen, wenn die akademische Mittelschicht sich in ihren Einstellungen und Konsumstandards nicht grundlegend ändert." Verzicht werde zur Voraussetzung künftiger Freiheit.
Über 320 Seiten breiten Richter und Ulrich interessante Beobachtungen zur Körperlichkeit der Politik, zum Verschiebebahnhof Beschlussosphäre und zu populistischen Verheißungen aus. Am kontroversesten äußern sich die bekennenden Veganer zum Fleischkonsum. Sie glauben, die Wende zur Nachhaltigkeit werde nur mit pflanzlicher Ernährung und einer Abkehr von der Massentierhaltung gelingen. Gut begründet, aber man kann auch anderer Meinung sein.
Nicht so gut gelingt die simultane Geschichtsschreibung in Themenfeldern, in denen die Autoren nicht zu Hause sind. So erklären sie vorzeitig das Modell Markt-Technik-Preissetzung für gescheitert - in einem Moment, in dem es zu spürbar sinkenden Emissionen in der Industrie führt. Mit ihrer Kritik am Ökonomischen ist auch ihre viel zu wohlwollende Sicht auf Wirtschaftsminister Robert Habeck und seine planungsverliebten Staatssekretäre zu erklären. Deren Versuch, Bürger in erneuerbare Heizungstechniken zu drängen, sei ein "Wetterleuchten einer anderen ökologischen Kommunikation und Politik" gewesen.
Dass er "zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt ernstlich Klimapolitik betrieben" habe, mag für den privaten Heizungskeller gelten. Ein Mittelständler, der seit zwanzig Jahren immer knapper werdende Emissionsrechte erwirbt und nun auch preislich Gründe hat, seine Energieversorgung umzustellen, wird das nicht nachvollziehen können.
Bei Richter und Ulrich kommt die Konstruktivität des Ökonomischen nur in Klischees vor. Am spürbarsten in einer Passage, in der sie Adam Smiths Marktphilosophie widerlegen wollen. Auf zweieinhalb Seiten nennen sie die Metapher der "unsichtbaren Hand" häufiger als Smith in seinem moraltheologisch-ökonomischem Gesamtwerk (und da jeweils in anderer Bedeutung). Ökonomische Perspektiven (etwa von Daron Acemoglu, Robert Solow oder Nicholas Stern) hätten ihrer Übersicht zur Umweltgeschichte nicht geschadet. Auch den Umbau des Finanzwesens durch den europäischen Green Deal streifen sie nur.
Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autoren einen wesentlichen Debattenbeitrag leisten. Ihnen geht es mehr darum, aufzuzeigen, wo der Westen falsch abgebogen ist, als darum, durch welche Schubser er auf die Spur zurückzubringen ist. Ihnen schwebt eine besondere Form von Revolution vor: Kein maskuliner Revolutionskitsch, der allzu oft in der Geschichte folgenlos blieb. Stattdessen: eine Revolution im Sinne von Die-Welt-neu-sehen.
Nicht immer ist erkennbar, warum mehr Tempo einen nachhaltigeren Effekt haben soll als effektive Instrumente. Aber Bürger und Politik darauf zu verpflichten, die Tiefe der Zäsur genauer zu erfassen, das gelingt ihnen. PHILIPP KROHN
Hedwig Richter/ Bernd Ulrich: Demokratie und Revolution: Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 368 S., 25,- Euro.
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