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In seinem Novellenband "Der Abgrund des Endlichen" stellt sich Hartmut Lange schützend vor seine schrulligen, bisweilen auch lebensmüden Figuren.
Seit Jahren erzählt Hartmut Lange in seinen zahlreichen Novellen von einsamen Männern, von Suchenden und Ratlosen. Und wären sie allesamt nicht so scheue Einzelgänger, könnten sie ihre Stimmen wunderbar zu einem beeindruckenden Chor der Traurigen und Verlorenen vereinen. Die Einsamkeit ist aber ein Wesensmerkmal von Langes Figuren, und so lässt er denn auch in seinen jüngsten Novellen drei Einzelstimmen erklingen, die nacheinander die Grundtöne der Weltabgewandtheit und Melancholie anschlagen.
Sie alle leben im heutigen Berlin oder im nahen Potsdam: der geschiedene Studienrat, den die Liebe zu seinesgleichen aus der geregelten Bahn seines Alltags geworfen hat und der nun von einer alten, schäbigen Gipsfigur an der Fassade einer Autowerkstatt fasziniert ist, der freischaffende Historiker, dem die Gesänge der Hildegard von Bingen wichtiger sind als die Chance, sich von seiner schweren Krankheit heilen zu lassen, und schließlich jener alte Mann, der unverhofft Besuch vom Mörder seines Bruders bekommt. 1948 war dieser Bruder, ein lebenslustiger Teenager, in den Wirren der Nachkriegszeit erschlagen und in einem Bombentrichter am Rande einer Laubenkolonie verscharrt worden. Nun, mehr als sechzig Jahre danach, will sein Mörder sein eigenes Leben abschließen: ",Helfen Sie mir. Ich habe Angst.' Und: ,Es ist mir nicht möglich, ohne Sühne zu sterben.'"
Mit unangestrengter Hand führt der inzwischen zweiundsiebzigjährige Hartmut Lange seine Figuren immer wieder aus ihrem ereignislosen Alltag bis an den "Abgrund des Endlichen", der dieser Sammlung ihren Titel gegeben hat. Zögernd und geradezu unwillig erfahren diese modernen Herren Jedermann das Ungenügen an ihrem Leben, lassen sich von einem Lichtwechsel auf dem Hausflur, einer mittelalterlichen Melodie oder eben einer Nachricht aus einer fernen Vergangenheit aus der Ruhe ihres wohleingerichteten Lebens bringen, ohne zu wissen, was der Preis und was der Gewinn dieser Verunsicherung sein werden. Denn die alten Antworten von Religion und Philosophie haben für Langes Helden keine Bedeutung mehr - keine Instanz vermag den alten Mord zu sühnen, und niemand verrät dem Kranken, warum der Kampf gegen die Krankheit dem Tod vorzuziehen sei. Auch die Liebe ist kein Ausweg aus dieser Einsamkeit. Studienrat Feldmann verliert vollends seine Balance, als er sich auf eine heikle Affäre mit einem zwielichtigen Barkeeper einlässt, und die beherzte Freundin des Historikers, eine Kardiologin, kann nicht verstehen, warum der Kranke sich so konsequent einer medizinischen Behandlung verweigert.
Allein in der Kunst, so deutet Lange an, könnten seine Figuren womöglich noch Sinn und Glück erfahren. Aber auch das ist ein prekärer und ungewisser Weg, sind die Zeiten einer gemeinschaftsstiftenden romantischen Kunstreligion doch längst vergangen. Stattdessen muss sich der kunstsinnige Studienrat von der Berliner Denkmalschutzbehörde erklären lassen, dass die von ihm bewunderte Fassadenfigur wertlose Massenware ist, des Aufhebens nicht wert. Die Kardiologin wiederum findet die Musik der Hildegard von Bingen, der sich ihr Partner verschrieben hat, schrill, unangenehm und außerdem noch der Gesundheit abträglich.
Am Ende bleiben diese traurigen Helden auch mit ihren Sehnsüchten und ihrer Liebe zur Kunst allein, und wir können nur vermuten, dass sie still an ihrem Ziel weiterarbeiten, unauffällig aus dieser Welt zu verschwinden. Hartmut Lange erzählt von diesen existentiellen Nöten mit meisterlicher Gelassenheit und einer bemerkenswerten Diskretion, so als wollte er diesen unglücklichen Gestalten die psychologische Besserwisserei ersparen, mit der so viele Autoren das Innenleben ihrer Gestalten sezieren.
Tatsächlich verlässt Lange immer wieder die vertraute Rolle des allwissenden Erzählers und agiert wie ein taktvoller Gastgeber, der seine Schützlinge vor der Neugier der Leser bewahrt. Über die Maßregelung des Studienrats durch seinen Direktor erfahren wir nicht mehr, als ein zufälliger Beobachter wahrnehmen könnte: "Eine Viertelstunde später, nachdem Feldmann das Zimmer wieder verlassen hatte, wirkte er blass, und es war zu vermuten, dass er unangenehme Dinge hatte anhören müssen." Und auch die Diagnose, die dem Musikliebhaber von seiner Partnerin, der pragmatischen Ärztin, gestellt wird, bleibt uns verborgen, wobei der Erzähler seine Geheimnistuerei recht weit treibt: "Es verbietet sich von selbst, darüber zu berichten oder auch nur zu mutmaßen, welche Art von Erkrankung es war, die Anneliese Bauer veranlasste, fast jeden Tag in Potsdam zu sein."
Hartmut Lange agiert als diskreter Anwalt seiner schwachen, lebensuntüchtigen Figuren. So seltsam und schrullig sich die einsamen Studienräte, verlassenen Musikfreunde und um Sühne bittenden Mörder auch verhalten mögen - ihr Schöpfer rechtet nicht mit ihnen und macht sie niemals lächerlich. Freilich gibt er auch keine Erklärungen für ihre Weltflucht, erlaubt sich allenfalls einige zurückhaltende Vermutungen und stattet seine Gestalten so mit einer stillen Würde aus, wie sie in der gegenwärtigen Literatur selten zu finden ist. So mögen diese leisen Novellen ihre Leser dazu anregen, selbst in die Abgründe des Endlichen zu blicken, die sie eröffnen. Was sich darin verbergen mag, verrät Hartmut Lange nicht.
SABINE DOERING
Hartmut Lange: "Der Abgrund des Endlichen". Drei Novellen. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 126 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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