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Die Grünen entdecken den Verfassungspatriotismus: Ein Band über den Karlsruher Brokdorf-Beschluss 1985
Eine Neuheit der politischen Kultur der letzten dreißig Jahre sind Minister, die an Demonstrationen teilnehmen. Warum sie dabei nicht komisch wirken, hat manche Gründe. Jedenfalls ist das Demonstrieren den Schmutz der Straße losgeworden. Bürger und Obrigkeitsstaat, die die Nase rümpfen, wenn Protest laut wird, gibt es auch nicht mehr. Wer sich dafür interessiert, wie es dazu kam, kommt nicht vorbei an einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Mai 1985, der als verfassungsrechtlicher Ritterschlag der bundesrepublikanischen "Protestkultur" gelten kann.
In Brokdorf nahe der Elbmündung demonstrierten im Februar 1981, zusammengerufen von zahlreichen Bürgerinitiativen aus der Anti-Atom-Bewegung, mehr als 50 000 Menschen gegen den Bau eines geplanten Kernkraftwerks. Aufmärsche dieser Größenordnung hatte es in der Bundesrepublik zuvor nicht gegeben, und so verboten die Behörden die Brokdorfer Versammlung. Den gesetzlich vorgeschriebenen verantwortlichen Leiter gab es nicht und auch keine ordnungsgemäße Anmeldung. Zudem fürchtete man einen gewaltsamen Verlauf. Doch vier Jahre später gab das Bundesverfassungsgericht dann den Demonstranten Recht und modernisierte bei dieser Gelegenheit das bis dahin am polizeilichen Leitbild der Gefahrenabwehr ausgerichtete Versammlungsrecht.
Das höchst lesenswerte Buch, das der Bayreuther Staatsrechtler Oliver Lepsius gemeinsam mit den beiden Zeithistorikern Bernd Greiner und Anselm Doering-Manteuffel über diese Entscheidung geschrieben hat, ist aus einem kürzlich gegründeten Arbeitskreis an der Mainzer Akademie der Wissenschaften hervorgegangen. Es ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst weil es überhaupt geschrieben wurde. Juristen pflegen Grundsatzentscheidungen als Autoritäten zu zitieren, brauchen sich dabei aber meist nicht für den damaligen "Fall" und seine Geschichte zu interessieren. Und auch Berufshistoriker haben oft Hemmungen, Urteile wie Quellen zu lesen. Hier aber führen die Autoren den Nutzen eines solchen Quellenstudiums einmal bestechend vor. Sie machen Textschichten und Beziehungen sichtbar und zeigen das Vorverständnis der Richter. Auf diese Weise wird aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in der Sache "Brokdorf" geradezu ein Schlüsseltext der deutschen Ideen- und Sozialgeschichte, der Neuen Sozialen Bewegungen, des Kalten Krieges - und des politischen Protestantismus.
In vergleichenden biographischen Skizzen arbeiten Lepsius und Doering-Manteuffel differenziert die evangelische Haltung der drei an der Entscheidung maßgeblich beteiligten Richter heraus. Der spätere Bundespräsident Roman Herzog hatte als Stuttgarter Innenminister Erfahrungen mit der Deeskalation von Massenprotesten gegen den Nato-Doppelbeschluss gesammelt. Helmut Simon, der von Karl Barth und Gustav Heinemann geprägt und Sozialdemokrat war, kannte als Kirchentagspräsident das Milieu der Friedensbewegung aus der Nähe und stand ihm auch politisch nahe. Von dem der SPD verbundenen Staats- und Kirchenrechtler Konrad Hesse schließlich stammte die der Entscheidung zugrundeliegende Verfassungstheorie: demokratischer Gruppenpluralismus an Stelle rechter und linker Krisentheorien.
Während Konservative über die Unregierbarkeit der Bundesrepublik im Zeichen des Massenprotests spekulierten, sahen Linke die Krise parlamentarischer Repräsentation in der Ausgrenzung progressiver Themen. Nach Doering-Manteuffel eine Phasenverschiebung politischer Themen: Vor dem Einzug der Grünen in den Bundestag hatte das Risikobewusstsein einer ganzen Generation keine politische Stimme in Bonn.
Das Gericht fand die Kompromissformel und erklärte die Versammlungsfreiheit zu einem "unentbehrlichen Funktionselement" der parlamentarischen Demokratie, insofern sie als "politisches Frühwarnsystem" Fehlentwicklungen sichtbar macht und dadurch letztlich systemstabilisierend wirkt. Daraus folgte einerseits, dass polizeiliche Verbote nur im äußersten Fall gerechtfertigt sind, andererseits aber eine Pflicht zur vertrauensbildenden Kooperation von Demonstranten und Sicherheitsbehörden. Damit konnten alle leben. Die einen, weil die funktionalistische Rechtfertigung der Versammlungsfreiheit technokratischen Charme besaß, die anderen, weil ihre Ausübung nun als unmittelbare Verwirklichung von Demokratie anerkannt war. Der Weg der Grünen zum Verfassungspatriotismus begann; ihre Regierungsvertreter lassen sich heute gerne auf Demonstrationen zu sogenannten gesellschaftlichen Themen sehen und abbilden.
Sieht man mit Greiner die Brokdorf-Entscheidung als Kulminationspunkt einer Geschichte nervöser Ängste im Kalten Krieg, so zeigt das eindrucksvoll die Zeitbedingtheit aller Verfassungsauslegung. Aber Brokdorf ist zugleich eine Studie über die Ambivalenz politischer Verfassungsrechtsprechung überhaupt. Die Autoren schreiben mit großer Sympathie für das Bundesverfassungsgericht in seiner vielleicht größten Zeit, in der es im gediegenen Ton souveräner Richtermacht über die Liberalität der politischen Kultur der Bundesrepublik wachte.
Doch der Karlsruher Grand Style hat auch eine andere Seite. Das gilt zum einen für die Überlastung der zum "Funktionselement" der Demokratie schlechthin stilisierten politischen Grundrechte. Wenn nicht mehr die engagierte Mitte protestiert, will von der Identifikation von Demonstration und Demokratie niemand mehr etwas wissen. Nicht weniger ambivalent geblieben ist auch die Rolle eines Verfassungsgerichts, das bewusst parlamentarische Repräsentationsdefizite kompensiert, indem es Themen Raum gibt, die in den Institutionen der parlamentarischen Demokratie tatsächlich oder vermeintlich zu kurz kommen. Ein leiser Vorbehalt gegen diese Institutionen liegt auch über dem Brokdorf-Beschluss.
Die Grundsanierung des 1965 von Paul Baumgarten entworfenen Amtssitzes des Bundesverfassungsgerichts wurde jüngst mit einem Nachhaltigkeitssiegel ausgezeichnet. Nachhaltigkeitssiegel für seine Rechtsprechung gibt es nicht. Umso wichtiger ist der historische Blick auf sie.
FLORIAN MEINEL.
Anselm Doering-Manteuffel, Bernd Greiner und Oliver Lepsius: " Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985".
Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2015. 230 S., geb., 29,- [Euro].
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