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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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Nach fast fünfzig Jahren auf Deutsch: Gianfranco Calligarichs Roman "Der letzte Sommer in der Stadt"
Der Schriftsteller Giorgio Manganelli, geboren 1921 in Mailand, gestorben 1990 in Rom, hat in einer kleinen, 1973 veröffentlichten Betrachtung diese zwei Städte verglichen: Mailand, "eine Stadt des Nordens, Schwester von Zürich und Cousine von Lübeck", schmäht er für "eine Art fieberhafter Hässlichkeit, eine hastige und unmanierliche Funktionalität", Rom dagegen schätzt er für den "schönen Eindruck, in einer Stadt zu leben, die weitgehend aus Ruinen besteht, . . . wie in einem verlassenen Museum".
Seit Fellinis Film "La dolce vita" (1959), auf den Luciano Bianciardi mit dem Roman "La vita agra" (Das saure Leben, 1962), einer sarkastischen, von Carlo Lizzani verfilmten Abrechnung mit Mailand, antwortete, sind Gegensatz und Rivalität der beiden Metropolen ein häufiger Topos. "Die schweren Speisen, der endlose Sommer, laute Nächte" in Rom, "pastose Nebel" und "Mangel an Farben" in Mailand: Jene Attribute und Motive, die Manganelli in "Rom und Mailand" anführt, finden sich auch in dem Roman "Der letzte Sommer in der Stadt" von Gianfranco Calligarich, der im selben Jahr 1973 herauskam und nun, fast ein halbes Jahrhundert später, erstmals auf Deutsch erscheint.
"Ich habe das Meer immer geliebt", bekennt Leo Gazzarra, der Icherzähler, auf der zweiten Seite und nennt die Nähe zum Meer als "einen der Gründe, weshalb es mich nach Rom zog". Zudem ist er familiär vorbelastet: Sein slawischer Großvater hatte die Jugend auf den Handelsschiffen des Mittelmeers verbracht, bevor er in Mailand strandete. Rom ist, so Leo schon nach einem Jahr, "der einzige Ort, an dem ich leben könnte . . ., denn Rom birgt einen besonderen Rausch in sich, der die Erinnerungen verbrennt". Die Aussicht, die Mailand bietet, findet er schrecklich: "einen Abschluss machen, heiraten und Geld scheffeln".
"Wenn ihr die Stadt liebt, wird sie sich euch darbieten, wie ihr sie euch wünscht", sagt Leo über Rom und lebt danach. Als das Büro der medizinisch- literarischen Zeitschrift, die ihn als Korrespondenten eingestellt hat, nach einem Jahr geschlossen wird und er aus dem Palazzo eines bankrotten Grafen ausziehen muss, hat Leo so viele Kontakte geknüpft, dass er erst mal ohne Job über die Runden kommt. Er übernimmt die Wohnung eines Künstlerpaars, das für zwei Jahre nach Mexiko geht, und dessen alten Alfa gleich mit, erkundet die Stadt, ihre Plätze, Sehenswürdigkeiten und Hotspots, schlägt sich durch Bars und schläft sich durch Betten, lässt sich zum Essen und zu Feten einladen, lebt und träumt in den Tag hinein, sogar seinen dreißigsten Geburtstag hätte er fast vergessen.
Auf einer Party begegnet er Arianna, einer kapriziösen Schönheit und Langzeitstudentin der Architektur aus Venedig, die beiden verlieben sich, streifen durch die Nacht und fahren ans Meer, genießen das Nichtstun und können ihr Glück doch nicht fassen und ihm eine Richtung geben. Die "Beklemmung, die ich nicht loswurde, und dieser stechende Schmerz in meiner Brust" sind Empfindungen, die den bindungsschwachen, ziellosen Leo über Gemeinplätze nicht hinausführen: "Dieses abgeschriebene Leben gab es, mein Leben, das sich ändern musste."
Calligarich schreibt eine schlanke, jazzig pulsierende Prosa mit schwingenden Melodiebögen und unruhigen Rhythmen, überraschenden Metaphern und schnellen Sprüngen, die auch in der Übersetzung von Karin Krieger funkelt und flirrt. Wie er eine Kulturschickeria, Künstler, Journalisten, eine Galeristin, Bohemiens - auch ein Tennisprofi ist darunter -, porträtiert, erfasst das Lebensgefühl einer Generation zwischen Sehnsucht und ausgelebter Sinnlichkeit, Einsamkeit und Ennui: Es ist die Zeit vor Aids und Rauchverbot, als auf der Piazza del Popolo noch Autos (und keine E-Roller) parkten, Nachtschwärmer mit tragbaren Plattenspielern unterwegs waren, Redakteure Pfeife rauchten, die Zugfahrt von Mailand nach Rom noch "acht Stunden" (Manganelli) dauerte, man zum Telefonieren einen Gettone brauchte und es völlig ausreichte, "kein Volltrottel zu sein, um als Genie durchzugehen" und beim Fernsehen einen Job zu kriegen. Aber Leo weiß schon nach einem Tag, dass das nichts für ihn ist, und schlüpft beim "Corriere dello Sport" unter, doch nicht als Journalist, sondern nur als Schreibkraft, die Texte transkribiert.
"Der letzte Sommer in der Stadt" ist eine Hommage an Rom, und um es hell leuchten zu lassen, greift Calligarich den Vergleich mit Mailand noch einmal auf. Als Arianna sich mit einem reichen Salonmaler verbandelt, sehnt sich Leo kurz vor Weihnachten "ein bisschen nach dem anständigen, etwas dumpfen Leben, das man in meiner düsteren Stadt führte", nimmt den Nachtzug und geht an einem "fahlen Morgen" zum Haus der Eltern. Aber statt sie zu besuchen, beobachtet er, wie der Vater aus der Tür kommt und sich von der Mutter verabschiedet. Mit dem Gefühl, zu stören, dreht er um und fährt zurück: "Die Traurigkeit überfiel mich, als der Zug sich in Bewegung setzte."
Gianfranco Calligarich, der 1947 (nach anderen Angaben: 1939) in Asmara in Eritrea geboren wurde und in Mailand aufgewachsen ist, hat in Rom als Journalist und Drehbuchautor gearbeitet, bis er 1994 ein Off-Theater gründete. Dass sein Debütroman, der, von Natalia Ginzburg gefördert, nach der erfolgreichen Erstauflage in der Versenkung verschwand und danach zweimal, 2010 und 2018, neu herauskam, nun in zwanzig Sprachen übersetzt wird, dürfte auch mit Paolo Sorrentinos Film "La grande bellezza" zu tun haben, der dasselbe Thema in wunderschöne Bilder verpackt und nostalgische Gefühle bedient. Doch während das Kino die Hohlheit einer selbstverliebten Clique nur reproduziert, schält der Roman, auch wenn die Frauenfiguren seltsam stereotyp geraten, ihren bitteren Kern heraus. ANDREAS ROSSMANN
Gianfranco Calligarich: "Der letzte Sommer in der Stadt". Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Zsolnay Verlag, Wien 2022. 208 S., geb.,
22,- Euro.
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