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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Was die Kunst über das Unsagbare zu sagen hat: Amir Eshel diskutiert und beschreibt eine Poetik nach der Schoa.
Wer etwas veröffentlicht, hat noch kein Anrecht auf Dank. Auch Amir Eshel, Literaturprofessor in Stanford, musste diese Erfahrung machen. Ein wissenschaftliches Buch, an dem er lange gearbeitet hatte, wurde weder von Kollegen noch Studenten wirklich gelesen und gewürdigt. Doch statt den Groll in sich zu begraben, schrieb Eshel ein neues Werk, einen Essay über "Poetic Thinking Today" und eröffnete ihn mit einer Philippika gegen das allgemeine Desinteresse an den Geisteswissenschaften.
Dieser Essay ist nun unter dem Titel "Dichterisch denken" auf Deutsch erschienen. Er möchte an Beispielen aus Lyrik und bildender Kunst zeigen, was poetisches Denken heute ausmacht. Unter "heute" - das der deutsche Titel ausspart - versteht Eshel die "zeitgenössische Erfahrung mit Tyrannei", vor allem aber die Erblast des Holocausts.
Eshel, der auch Gedichte schreibt, beginnt natürlich mit Lyrik, mit Paul Celan und Dan Pagis. Aus Celans Band "Die Niemandsrose" von 1963 wählt er zwei berühmte, oft interpretierte Stücke: "Zürich, zum Storchen" und "Psalm". Sie formulieren für ihn - bis in die Blasphemie hinein - die Auseinandersetzung zwischen religiöser Identität und dem Gottesglauben nach dem Holocaust. Merkwürdig, dass dabei die "Todesfuge" nicht weiter erwähnt wird. Dann aber, beim zehn Jahre jüngeren Kollegen Dan Pagis, betont Eshel die Rolle der Gedichte als "Edut", als Zeugenaussage. Bei Pagis erscheinen poetische Bilder, die an die Konzentrationslager erinnern und so an die "Todesfuge", an die Lager-Wächter und den Rauch, der aus den Krematorien aufsteigt. Wenn Eshel beide Dichter unter Celans Metapher einer "Atemwende" zusammenbringt, möchte er die Dichtung als "wahrhaftiges Reservoir aller menschlichen Erfahrung" verstanden wissen. Positiver lässt sich eine Dichtung nach und über Auschwitz kaum fassen.
Erstaunlich, dass ein Essay über das dichterische Denken der bildenden Kunst mehr Raum gibt als der Poesie. Eshel lässt nicht nur die Gedichte denken, was immerhin angeht, er nimmt sich auch die Freiheit, Gemälde und Skulpturen "denken" zu lassen. Seine Protagonisten sind dabei der Maler Gerhard Richter und der Bildhauer Dani Karavan.
Karavan, 1930 in Tel Aviv geboren, hat in Israel und in Europa zahlreiche öffentliche Aufträge realisiert; er schuf etwa die Betonreliefs im Gerichtshof von Tel Aviv oder das Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Eshel hat Karavans Denkmäler und Installationen aufgesucht und mit dem Künstler diskutiert. Er interpretiert diese Arbeiten als öffentliche Reflexionsräume für das Geschehen des Holocausts.
Intensiver noch ist Eshels Auseinandersetzung mit dem 1932 geborenen Gerhard Richter. Eshel ist ihm mehrfach begegnet und hat mit ihm zusammen auch einen Band mit Zeichnungen gemacht, zu dem er eigene Gedichte beisteuerte. 2016 besuchte er Richter in seinem Berliner Atelier. Im Mittelpunkt ihrer Gespräche stand die Frage, ob man den Holocaust mit den Mitteln der Kunst darstellen könne. Da lag schon Richters ebenso schlichte wie provozierende These vor: "Man kann Auschwitz nicht abmalen." Eshel war von Richters früher Begegnung mit Fotos von Opfern der Konzentrationslager sehr berührt. Richter sagte ihm: "Furchtbare Aufnahmen . . . Ich vergesse das nie. Das war fast wie ein geheimes Buch." Ein solches Buch eröffnet Richters Zyklus "Birkenau", der von Fotos jüdischer Zwangsarbeiter ausgeht, welche diese unter extremen Umständen, doch unentdeckt in Auschwitz-Birkenau machen konnten.
Richter, der viele seiner Bilder fotorealistisch konzipiert hatte, musste einsehen, dass seine Manier, auf der Leinwand Fotos in verwischten Grautönen zu reproduzieren, vor dem Ungeheuren der Birkenau-Situation versagte. Es war bloßes Abmalen. Er wählte eine abstrakte Darstellung für die Bilder, die zudem von erklärenden Materialien begleitet werden. Eshel, der Richters Reflexionen nachgeht, sieht in der Abstraktion die Aufforderung an die Betrachter, über die gegenständlichen historischen Details hinaus nachzudenken. Er geht damit auch über die unverminderte Skepsis des Malers hinaus. Richter ist für ihn ein Zeuge seiner Hoffnung.
Überhaupt sind Eshels Betrachtungen von erstaunlichem Optimismus. Wenn man den Essay im Wortsinn als Versuch versteht, begreift man, warum sein Verfasser in der Gegenwart eine positive Tendenz zur Romantisierung der Welt sieht. Eshel glaubt nämlich, dass viele Menschen ihre Energie in Aktivitäten investieren, "die vor kurzem überwiegend als Privilegien von Künstlern galten". Soll die Welt also endlich Kunst werden? Eshel erwähnt natürlich Novalis und dessen Aufforderung, die Welt zu romantisieren. So möchte man ihn fast für einen Wiedergänger des Autors von "Die Christenheit oder Europa" halten. Jedenfalls liest man Eshels Essay angeregt und nachdenklich.
HARALD HARTUNG
Amir Eshel: "Dichterisch denken". Ein Essay.
Aus dem Englischen von Ursula Kömen. Jüdischer Verlag, Berlin 2020. 279 S., geb., 24,- [Euro].
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