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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Patient mag zwar tot sein, aber die ärztliche Kunst soll wachsen: Robin Lane Fox widmet sich einem antiken medizinischen Text
Unter den zahlreichen medizinischen Schriften, die uns unter dem Namen des Arztes Hippokrates aus der Antike überliefert sind - in Wirklichkeit aber von einer großen Vielzahl Schriftsteller stammen -, findet sich ein umfangreicher Text, der "Epidemien" heißt. Wie der Oxforder Althistoriker Robin Lane Fox in seinem neuen, speziell diesem Text gewidmeten Buch ausführt, wurde der Titel schon in der Antike unterschiedlich interpretiert. Er soll nicht so aufgefasst werden, als würden nur in unserem Sinne epidemisch auftretende Krankheiten thematisiert: Das Verb epidêmein bedeutet "besuchen", "sich aufhalten", und es kann sich auf allerlei Krankheiten beziehen, die es in einer gewissen Region in einem bestimmten Zeitraum gegeben hat.
Das passt sehr gut zum weiten geographischen Horizont der Darstellung, denn in den "Epidemien" werden zahlreiche griechische Städte, Inseln und Gegenden genannt, die mit Blick auf die allgemeine Gesundheitslage hinsichtlich ihrer Wetterverhältnisse und übrigen Umweltfaktoren beschrieben werden. Der Titel wurde manchmal aber auch auf die Visiten bezogen, die der (Wander-)Arzt bei seinen Patienten gemacht hat. Denn tatsächlich finden sich in den "Epidemien" Hunderte von Krankengeschichten und Fallbeschreibungen, in denen der Verlauf einer Krankheit bei einer Patientin oder einem Patienten - es werden Frauen, Männer, Kinder und auch Sklaven oft namentlich genannt - Tag für Tag geschildert wird. Der Autor berichtet im Telegrammstil von seinen Beobachtungen am Krankenbett.
Vermutlich geht es hier um Notizen, die in einer Art aide-mémoire während der Visite oder direkt danach niedergeschrieben wurden; wahrscheinlich dienten sie auch der Datensammlung und Archivierung zum Aufbau eines ständig wachsenden Dossiers von allgemeineren medizinischen Kenntnissen, die induktiv aus den individuellen Fallbeschreibungen entwickelt wurden. In redigierter Form waren diese Krankengeschichten womöglich auch für didaktische Ziele bestimmt, indem sie medizinischen Schülern konkrete Beispiele für Anamnese und Diagnose boten.
Auffällig ist, dass die Berichte keineswegs rühmende Erfolgsgeschichten sind, denn in vielen Fällen enden sie mit dem Tod der Patienten. Manchmal gesteht der Autor sogar selbst zu, dass er in der Diagnose oder in der Behandlung einen Fehler gemacht hat. Diese Ehrlichkeit, Integrität und Wahrheitsliebe gelten als klassische Merkmale jenes Ärzteideals, das mit dem Namen des Hippokrates verknüpft ist und als Inbegriff einer wissenschaftlichen, auf systematischer und zielgerichteter empirischer Forschung basierten, aber auch ethisch bewussten Medizin.
Die "Epidemien" bestehen aus sieben Büchern, die von unterschiedlichen Autoren aus verschiedenen Zeiträumen stammen und erst in einer späteren Redaktionsphase zusammengefügt wurden. Das erste und das dritte Buch sind aber vermutlich die ältesten; sie bilden ein einheitliches Werk und stammen offensichtlich von einem Autor mit starker Persönlichkeit. Neben den Krankengeschichten äußert er auch allgemeinere Gedanken über die medizinische Kunst, manchmal in aphoristischer Form: So findet man hier die berühmte Maxime, dass die Aufgabe der Medizin darin bestehe' zu helfen und keinen Schaden zu verursachen.
In der medizinhistorischen Forschung wurden diese beiden Bücher traditionell auf das letzte Viertel des fünften Jahrhunderts v. Chr. datiert. Damit würden sie - wie auch mehrere andere unter dem Namen des Hippokrates überlieferte medizinische Werke - in den Zeitraum des Peloponnesischen Krieges fallen: Die Entstehung der für sie charakteristischen medizinischen Herangehensweise, die im Vergleich zu früheren Heilungsmethoden ein Novum darstellt, wäre unter anderem als eine Reaktion auf die verheerende Pestepidemie von Athen im Jahr 429 zu verstehen.
Nun hat Lane Fox für diese Schrift eine andere Datierung vorgeschlagen und sie gut fünfzig Jahre früher um 460 v. Chr. angesetzt. Grundlage dafür sind die Namen von Patienten, die in den Fallbeschreibungen genannt werden und die mit den Namen von Magistraten, die uns aus unabhängig datierbaren öffentlichen Inschriften von der nordgriechischen Insel Thasos überliefert sind, übereinstimmen; auch der Hinweis auf die neue Stadtmauer in Thasos, deren Bau in anderen Quellen belegt ist, ist hier bedeutsam.
Natürlich waren diese Parallelen schon bekannt, aber sie wurden bisher anders interpretiert und auf spätere historische Personen und Ereignisse bezogen. Über die Einzelheiten dieser Datierungsfrage kann man streiten, die Interpretation von Lane Fox ist aber durchaus vertretbar und im Hinblick auf die dürftige Quellenlage nicht hypothetischer als die traditionelle. Falls sie allerdings zutrifft, hat sie große Konsequenzen, und es muss nicht nur ein Kapitel in der Medizingeschichte, sondern - wie der Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe mit Recht andeutet - in der ganzen griechischen Kulturgeschichte des fünften Jahrhunderts neu geschrieben werden.
Denn mit der Datierung in der frühklassischen Zeit wäre der Autor älter als Hippokrates, und die Entstehung dieser neuen Medizin würde mit dem Auftreten des Aischylos und Herodot zusammentreffen; sie wäre nicht länger Ergebnis, sondern gestaltender Faktor der für das fünfte Jahrhundert so kennzeichnenden Aufklärung. Problematisch ist allerdings, dass Lane Fox diese Konsequenz für die anderen 'hippokratischen' medizinischen Schriften, mit denen das erste und dritte Buch der "Epidemien" sowohl inhaltlich als auch methodisch starke Ähnlichkeiten aufweisen und die offensichtlich im selben intellektuellen Umfeld entstanden sind, selbst nicht zieht. Im Gegenteil, für diese Schriften stellt er die traditionelle Datierung gegen Ende des fünften Jahrhunderts nicht infrage. Das erste und das dritte Buch stünden somit isoliert da, und es gäbe eine Lücke von etwa fünfzig Jahren, bevor der revolutionäre wissenschaftliche Ansatz, der mit dem Autor dieses Werkes aufkam, fortgesetzt würde. Das könnte wiederum an der lückenhaften Überlieferung liegen, aber wirklich befriedigen kann diese Antwort nicht.
Überhaupt ist die Darstellung, die Lane Fox von der Persönlichkeit und Gedankenwelt seines Arzt-Autors und von der Geschichte der antiken Medizin im Allgemeinen gibt, in anderen Hinsichten eher konventionell. Von der "Entdeckung" (im englischen Titel "Invention") der Medizin bei den Griechen zu reden gilt heutzutage als altmodischer Hellenozentrismus, der vergleichbaren Ansätzen in der mesopotamischen, ägyptischen, indischen und antiken chinesischen Medizin nicht gerecht wird. Auch Lane Fox' Auffassung, dass die Wissenschaftlichkeit der griechischen Medizin darin bestehe, dass sie die Götter ausgeklammert habe und ohne Hinweis auf das Übernatürliche auskomme, gilt allgemein als eine zu grobe Simplifizierung: Auch wenn die griechischen Ärzte Krankheiten weitgehend auf natürliche Ursachen zurückführten und entsprechend behandelten, waren sie selbst nicht areligiös, und bei manchen spielte das Göttliche in ihrem Denken und Handeln durchaus eine Rolle.
Davon unbenommen, hat Lane Fox ein attraktives Buch geschrieben, das reiche Informationen zur Geschichte des antiken medizinischen Denkens bietet. Seine provokante These zur Datierung des ersten und dritten Buchs der "Epidemien" sollte eine Herausforderung sein, die Frühgeschichte der griechischen Medizin sowie ihre Beziehungen zur Philosophie und zur Geistesgeschichte in einer höchst formativen Phase ihrer Entwicklung neu zu durchdenken. PHILIP VAN DER EIJK
Robin Lane Fox: "Die Entdeckung der Medizin". Eine Kulturgeschichte von Homer bis Hippokrates.
Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 448 S., geb., 35,- Euro.
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