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England sei doch immer der Hafen des Fortschritts und der Freiheit gewesen, empörten sich die Kolonialismus-Kritiker. Benedikt Stuchtey präsentiert ihre Argumente.
Der aggressive Imperialismus, der den Steuerzahler teuer zu stehen kommt, der für den Produzenten und Händler nahezu ohne Wert ist und der mit unkalkulierbaren Gefahren für den Bürger behaftet ist, stellt hingegen eine Quelle großen Gewinns für jenen Investor dar, der im Heimatland für sein Kapital keine profitablen Anlagemöglichkeiten findet." Diesen Satz, den John Atkinson Hobson in seiner berühmten, 1902 publizierten Schrift "Imperialism" formulierte, brachte die zentrale Kritik am Britischen Empire um die Jahrhundertwende auf den Punkt: Großbritannien als Ganzes habe wenig von imperialen Investitionen und Handel oder leide gar darunter. Lediglich eine kleine Clique von Finanziers mache kräftige Gewinne.
Wichtiger Anlass für Hobsons kritisches Imperialismus-Buch war der Südafrikanische Krieg, der sogenannte Burenkrieg, der 1899 begann. Er zählte zu den härtesten und blutigsten Auseinandersetzungen der Kolonialgeschichte. Die burischen Republiken in Südafrika hatten Großbritannien den Krieg erklärt, wollten endgültig zu gleichberechtigten Mitgliedern der Staatengemeinschaft werden, die Briten sie dagegen ihrem Kolonialreich einverleiben.
Angesichts des burischen Guerrillakrieges entwickelten die britischen Militärs ebenso gründliche wie brutale Gegenmaßnahmen. Sie zerstörten systematisch die Bauernhöfe und brannten die Erde nieder, um den burischen Kommandos die Versorgung abzuschneiden. Sie internierten Frauen und Kinder in Lager, die sie selbst als concentration camps bezeichneten. Schließlich überzogen sie das Land mit einem Netz von Stacheldrahtzäunen und Blockhäusern, um die Bewegungsfreiheit der Buren einzuschränken. Doch erst im Mai 1902 akzeptierten diese die von London diktierten Friedensbedingungen.
Obwohl der britische Sieg nur eine Frage der Zeit war, gab die Erfahrung, eine Armee von 450 000 Soldaten eingesetzt zu haben, um zwei der weltweit kleinsten Agrarstaaten zu beugen, der imperialen Gesellschaft reichlich Stoff zur Selbstreflexion. Zugleich empörte sich eine "Internationale der Kritiker" aus unterschiedlichsten Gründen und mit entsprechend diversen Argumenten über die britische Südafrikapolitik während des Krieges. Theodor Mommsen etwa beklagte einen Verlust an Illusionen. Man habe in Europa England stets als "Hafen des Fortschritts, als Land politischer und intellektueller Freiheit" gesehen. Nun beginne man daran zu zweifeln, ob Großbritannien längerfristig den großen Nationen Europas und Amerikas gewachsen sein werde.
Mark Twain schrieb, der Sündenfall der Briten in Südafrika sei ebenso unverzeihlich wie der Amerikas auf den Philippinen. Auffallend war der offene Antisemitismus, mit dem zahlreiche Kolonialgegner die "jüdischen Finanziers" in Pretoria und Johannesburg beschuldigten, die Briten zu instrumentalisieren, um sich gegen die Buren zur Wehr zu setzen. Hobson schlug mit seiner These, der Finanzkapitalismus sei ein Motor des Imperialismus gewesen, deutlich antisemitische Töne an, wie überhaupt die wenigsten Kolonialkritiker, ganz unabhängig von ihrer Nationalität, vor Rassismus und Antisemitismus gefeit waren.
Die Diskussion über den Südafrikanischen Krieg markierte eine wichtige Etappe in der Geschichte der Kolonialkritik, wie sie Benedikt Stuchtey in seiner Konstanzer Habilitationsschrift für den Zeitraum vom achtzehnten bis in das frühe zwanzigste Jahrhundert auf breiter Literaturbasis untersucht hat. Der stellvertretende Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London analysiert differenziert und mit großer Detailfülle Gemeinsamkeiten und Unterschiede im kolonialkritischen Denken in Westeuropa und partiell auch den Vereinigten Staaten. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Parallelen und Brüche der europäischen Kolonialherrschaft. In diesem Zusammenhang stellt der Autor heraus, dass die verbreitete Vorstellung, "Antikolonialismus sei ein mit einer Geschichte des okzidentalen Freiheitsstrebens fest verwobener Teil", nicht zutreffe. Dem stehen, wie seine Studie im Einzelnen zu zeigen vermag, die Verschiedenartigkeit der maritimen und siedlungskolonialen, vormodernen und modernen Imperialismen, ihre unterschiedlichen Diskontinuitäten sowie die Vielfalt der Formen kolonialer Herrschaft in den jeweiligen historischen Kontexten entgegen.
Stuchteys Geschichte der Kolonialismuskritik ist zugleich eine Würdigung der vorrangigen Bedeutung der britischen Geschichte für die Geschichte des neuzeitlichen Imperialismus: "Die ,Zentralität Europas' in dem Sinne, dass insbesondere das 19. Jahrhundert eine ,Epoche Europas' war, ein europäisches Jahrhundert schlechthin, basierte", so der Autor, "an vorderster Stelle auf der Zentralität Großbritanniens." Entsprechend stehen Entwicklungen auf der Insel im Mittelpunkt der Darstellung, wobei vergleichende Aspekte vor allem in Bezug auf Frankreich und Deutschland immer wieder einfließen. Der Fokus richtet sich explizit auf "metropolitane Diskurse" über den Imperialismus, während außereuropäische Stimmen kaum eingefangen werden. Der Autor argumentiert in seiner sehr substantiellen Einleitung mit durchaus guten Gründen für eine europazentrierte Perspektive auf die Kolonialismuskritik. Gleichwohl hätte man sich an einigen Stellen den systematischeren Einbezug der Kolonisierten und ihrer Aussagen gewünscht. Deren Bedeutung auf den europäischen und internationalen Bühnen wuchs im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts stark an, in einer Periode, die im vorliegenden Buch allerdings ohnehin nicht im Zentrum steht.
Methodisch hat sich Stuchtey vom Konzept der "intellectual history" anregen lassen, wie es im angelsächsischen Raum etwa Stefan Collini vertritt. Die Geschichte der Kritiker der europäischen Expansion wird nicht als ideengeschichtlich logische Erzählung entworfen, sondern am Beispiel von Einzelstudien erzählt, von "Charakterstudien", wie der Autor sie nennt. Unter Einbeziehung ihrer politischen und sozialen Hintergründe erfasst er die Kolonialismustheoretiker als "public moralists", als "Intellektuelle, deren Ideen so dem Wandel unterworfen waren, wie ihre politischen und gesellschaftlichen Profile vom Wandel der Zeiten geprägt wurden". Auf diese Weise ist ein faszinierendes Porträt einer über Generationen und über nationale Grenzen hinwegreichenden engagierten Öffentlichkeit entstanden, welche die Geschichte der kolonialen Expansion wesentlich mitgeprägt hat.
ANDREAS ECKERT
Benedikt Stuchtey: "Die europäische Expansion und ihre Feinde". Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. R. Oldenbourg Verlag, München 2010. 470 S., geb., 59,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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