- Verlag: DVB Verlag
- Altersempfehlung: ab 16 Jahre
- Erscheinungstermin: 7. Juli 2022
- Deutsch
- ISBN-13: 9783903244252
- Artikelnr.: 64250902
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Voyeur der Todsünden: Ein Buch mit Texten von
Marcel Jouhandeau zeigt dessen Schwanken zwischen Scham und Schwärmen für den deutschen Faschismus.
Der Schriftsteller Marcel Jouhandeau lebte von 1888 bis 1979. Er war katholisch und kein Freund der eigenen Epoche. Er sympathisierte mit den Nationalsozialisten, er verneigte sich vor Kreaturen wie Goebbels und von Schirach, er schrieb antisemitische Pamphlete (gesammelt in "Le Péril Juif" von 1937), die es mit Louis-Ferdinand Célines ekelhaften Traktaten aufnehmen können. Weshalb also sollte man etwas von Jouhandeau lesen? Eine Zeit, in der die Schriftsteller gern nach ihrer moralischen Statur beurteilt werden, legt diese Frage nah.
Der vorliegende Band beantwortet sie, aber unvollständig. Er enthält das Tagebuch einer Reise, die Jouhandeau 1941 nach Deutschland unternahm, und eine Erzählung, die aus dieser Reise hervorging. Die Erzählung berichtet fast ohne Angaben zu Ort, Zeit und Personen von einer homosexuellen Liebesbeziehung, einer "Verwirrung", die den Erzähler mit dem nicht näher bezeichneten Leiter einer Gruppenreise verbindet. Man besucht Museen, Schlösser und Konzerte, steht bei Empfängen beieinander, frequentiert Hotels. Die Reise schließt mit einer Konferenz ab.
Dem schemenhaften äußeren Geschehen ist die innere Erkundung einer Passion entgegengesetzt, die als unerlaubt erlebt wird. Der Erzähler fühlt sich beobachtet, verzeiht sich nicht, dass in ihm vor aller Augen "das Tier keucht". Er sucht, seine Leidenschaft im Griff zu behalten, um ihr nur die augenöffnenden Aspekte abzugewinnen, sieht sich aber von ihr getrieben und zugleich isoliert. Die Liebe schärft die Sinne, und sie verwirrt den Verstand. Als verbotene vereinzelt sie: "Die Leidenschaft ist eine Welt für sich, in der ich am Rande der Menschen lebe." Die Passion wird dabei mehr genossen als die Person, durch die sie entflammt wurde. Von ihr erfahren wir fast nichts, sie dient als Auslöser.
Das ausgelöste Leid entfaltet sich in Schleifen. Der Erzähler glaubt, durch sein Fasziniertsein bei den Umstehenden Besorgnis zu erregen, gibt sich deshalb entspannt, bricht dadurch aber für sich selbst den Zauber der Situation und beunruhigt den Geliebten, der die vorgetäuschte Gleichgültigkeit seinerseits mit Gleichgültigkeit erwidert. Das wiederum wird als heilige Qual gefeiert: "Nichts erregt mich so sehr, wie zu glauben, dass ich vernichtet bin." Und er ist ständig vernichtet, weil seiner Seele nichts angemessen ist. Das hat die Leidenschaft mit der Religion gemeinsam.
Geheim ist diese Reise in doppeltem Sinn. Jouhandeau verbirgt, was ihn bis zur inneren Raserei umtreibt, und er weiß, dass er ein Kollaborateur ist. Die tatsächliche Reise, die dem Text voranging, wurde 1941 auf Einladung von Joseph Goebbels als herbstliche Bahntour von französischen Schriftstellern der Rechten (unter anderen Drieu la Rochelle, Brasillach, Bonnard, Chardonne) ins nationalsozialistische Deutschland unternommen. Das Objekt der Begierde war der Offizier Gerhard Heller, der im besetzten Paris damals für Literatur zuständig war, später Übersetzer zahlloser Romane aus dem Französischen, von Drieu la Rochelle über Julien Green bis zu Patrick Modiano, und ein Gesellschafter des Hausverlags Stahlberg von Arno Schmidt; ein literarischer Vermittler von Rang.
Jouhandeau ist damals 53 Jahre alt, Heller dreißig. Der Schriftsteller hatte seit seiner Jugend bis hin zum Selbstmordversuch unter der Spannung zwischen seinem katholischen Glauben und seiner Sexualität gelitten. Die Heirat mit einer Tänzerin entwöhnte ihn nicht. In der Reise nach Deutschland vermischt sich die erotische Attraktion durch den deutschen Offizier mit dem ästhetischen Schwärmen für den Faschismus, das er ebenfalls als unerlaubt wahrnimmt. Material für Klaus Theweleit. Er selbst redete sich teils auf die Verführung durch den Teufel heraus, teils darauf, "ein großes Volk am Werk" gesehen zu haben. Eine Passantin in Wien sagt ihm, er sei zu jung, um Männer gekannt zu haben, heute gebe es nur noch Wölfe. Er notiert es kommentarlos.
Das kluge Nachwort des Herausgebers und Übersetzers, Oliver Lubrich, fragt zu Recht, wofür jener "X", als den Jouhandeau den Offizier Heller in seiner Erzählung bezeichnet, eigentlich steht. Denn er wird hier nie beschrieben, ist ein Mann fast ohne Eigenschaften außer der ihm zugeschriebenen Stärke. Jouhandeau genießt vor allem die eigene Scham, das Leid und die Überschreitung. Seine Bereitschaft, von Schirach und Goebbels mit den abgeschmacktesten Attributen des Kraftmenschentums zu belegen, ist dabei selbst beschämend. Aber sie verweist auf die Sogwirkung, die das "Dritte Reich" auf solche Intellektuelle ausübte. Der Katholizismus vertrat nach ihren Maßstäben keine Herrlichkeit mehr, sie wandten sich dem zu, was sie für eine letzte Bastion der Stärke und einer formierten Gesellschaft hielten. Sie waren voller Sehnsucht nach einer geschlossenen Welt unwidersprochener Größe und dafür bereit, ihren Verstand zu opfern.
Das führt zurück zur Frage nach den Gründen, Jouhandeau zu lesen. Sie werden sich den Lesern dieses Buches nicht ganz erschließen. Hier nämlich wendet er seine literarische Stärke auf sich selbst an, auf die eigene Passion, und das ist weniger ertragreich als in den Werken, in denen er sich anderen, von ihm erfundenen Charakteren zuwendet. Jouhandeau war ein Voyeur der Todsünden, die von Menschen Besitz ergreifen können, ein ironischer Pornograph der Seele. Seine Porträts der Bewohner von Chaminadour, wie er seine Heimatstadt Guéret nahe Limoges in den Erzählungen genannt hat, zeigen Lebensläufe, die sich ganz einer fixen Idee, einem Begehren, einer einzigen Narrheit ausliefern: der Sparsamkeit, der Unberührbarkeit, der Ehre oder dem Eros. An ihnen gehen sie meistens zugrunde, oder sie gehen über sie in den Himmel ein. Jouhandeau hat versucht, die Art, in der Flaubert in seiner Erzählung das "simple coeur" als eine Form des Alltagsfanatismus beschrieb, zu einer Gattung zu erheben. So entstand ein unvergleichliches Marionettentheater der verrückten Egoismen auf dem Grund unserer Lebensführung.
Jouhandeau trat sein literarisches Vermögen ideologisch mit Füßen. Den Versuch, davon abzusehen, hat Friedhelm Kemp vor sechzig Jahren schon einmal in Form einer fünfbändigen Ausgabe unternommen, in der auch die Übersetzungen zu lesen sind, die Walter Benjamin von dem bewunderten Autor angefertigt hat. Große Wirkung hatte diese Ausgabe nicht. Wer sie antiquarisch erwirbt, macht keinen Fehler. Denn die moralische Analytik, die Jouhandeau in seinen Geschichten durchführte, ist ungetrübt von seinem eigenen Versagen. Der vorliegende, hervorragend kommentierte Band könnte insofern den erneuten Anstoß dazu geben, eine ganze Region des Erzählens wiederzuentdecken. JÜRGEN KAUBE
Marcel Jouhandeau:
"Die geheime Reise". Autobiographischer Roman und
Reisetagebuch.
Aus dem Französischen und hrsg. von Oliver Lubrich. DBV, Wien 2022. 256 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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