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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
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Mal wie Krimi, mal wie Schauermärchen, mal wie Recherche: Mohamed Mbougar Sarrs Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen".
Menschlich oder unmenschlich? Der Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen" von Mohamed Mbougar Sarr, 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, scheint das Intimste berühren zu wollen. Er handelt von Diégane Latyr Faye, einem senegalesischen Jungautor, der im Pariser Exil seinen Weg und seine literarische Stimme sucht, dabei an der scheiternden Liebe mit Aïda leidet wie ein Hund. Allerdings stößt er auf einen weiteren Roman, der eine schreckliche Geschichte erzählt: Ein König verbrennt seine Feinde und Untertanen, vermischt die Überreste mit der Erde, aus der ein Wald entsprießt. Eines Tages folgt er einer Frau, verirrt sich im Wald, läuft ihr jahrelang hinterher; aus jedem Baum spricht die Seele eines verbrannten Menschen und erzählt ihm ihr Schicksal. Der König altert, wird sterben, da befreit ihn die Frau oder Göttin; tatsächlich war er nur wenige Stunden unterwegs. Er heiratet die Frau, begründet einen Staat. Nicht umsonst heißt der Roman im Roman, der diese grausame Geschichte erzählt, "Das Labyrinth des Unmenschlichen".
Das Labyrinth ist der zweite Schlüssel zu "Die geheimste Erinnerung der Menschen", denn in Labyrinthe entführen uns beide, Sarrs echter und sein fiktiver Roman. Dabei ist der Plot des echten Romans im Grunde überschaubar: Diégane stellt 2018 Nachforschungen über Elimane Madag Diouf an, der 1938 "Das Labyrinth des Unmenschlichen" in Paris veröffentlicht hat. Buch und Autor erfuhren seinerzeit große Beachtung - "ein schwarzer Rimbaud", hieß es -, es folgten aber Plagiatsvorwürfe; der Roman wurde eingezogen, Elimane verschwand scheinbar spurlos. Achtzig Jahre später trifft Diégane die alte Siga D., eine Cousine von Elimane, deren Ex-Geliebte, eine haitische Dichterin, früher mit Elimane verbandelt war. Siga D. gibt Diégane den legendären Roman zu lesen und erzählt ihm große Teile des Lebens von Elimane: Der war während der Besatzung in der Résistance, verbrachte Jahrzehnte in Argentinien und kehrte schließlich in sein senegalesisches Dorf zurück, wo er als respektierter Magier hundertzweijährig starb - ein Jahr bevor Diégane sein Haus und sein Vermächtnis findet.
Dass Sarrs Roman ein Leseerlebnis ist, liegt zum einen daran, wovon er erzählt: Elimane ist ein Mysterium, das sich geschickt entzieht. Augenzeugen berichten Erschütterndes: "Ich stand wenige Zentimeter von ihm entfernt und hatte das schrecklich verwirrende Gefühl, vor einer Wand und zugleich vor einem vertikalen Meer zu stehen, einer Art stehenden Welle, in deren Innerem ich ein wütendes Grollen hörte." Es liegt zum anderen darin, wie Sarr erzählt: mal wie in einem Krimi, mal wie in einem Schauermärchen, mal wie in einer Recherche; es werden Rezensionen, Tagebucheinträge, Auszüge aus Literaturgeschichten und Essays geschaltet.
Es klimpert nicht nur die Genreklaviatur, Sarr lässt auch eine Vielzahl an Stimmen zu Wort kommen: Die Exil-Schriftstellerin Siga D., mit der der viel jüngere Diégane anbandelt; die haitische Dichterin, die Elimane mit Witold Gombrowicz und Ernesto Sábato im Argentinien der Nachkriegsjahre kennenlernt; die Journalistin Brigitte Bollème, die ein erstes Buch über Elimane schreibt; Elimanes jüdische Lektorin Thérèse Jacob, die mit Mühe der Verfolgung entkommt, aber ihren Geliebten durch einen perversen Nazi-Offizier verliert. Jede dieser Existenzen berichtet ihren Part, als Teil des Elimane-Puzzles gewinnen sie ihre Bedeutung und ihr Eigengewicht. Die Figuren sind Filter, Überträger, Vermittler: Ihre Erzählungen wandern durch viele Ohren und Münder.
Der Plagiatsprozess gegen "Das Labyrinth des Unmenschlichen" ist das literarische Zentrum des Romans: Skandalös ist dieser freilich für die Plagiatsjäger selbst, weil der senegalesische Mythos, den Elimane angeblich kopiert hat, die nachträgliche Erfindung eines rassistischen Ethnologen ist; die Anleihen bei der europäischen Hochkultur wiederum wären bei einem französischen Autor als kluge Hommage gewertet worden, nicht als Abschreiben. Kurz: Elimane war ein diskriminiertes Genie.
Der Rassismus einer kolonialen Gesellschaft schlägt in etwas anderes um: Die Geschehnisse werden durch Todesfälle unter Elimanes Rezensenten unheimlich, sie sterben wie die Fliegen. Was treibt sie in den Selbstmord? Die einzige Spur führt zu Elimane, der von seinem Vater, einem Magier, in okkultes Wissen eingeweiht wurde. So ist aus einem "kleinen Weißen Schwarzen" (sic), den man nicht anerkannt, sondern mit Verachtung gestraft hat, ein böser Schwarzmagier geworden, der düsterste Traditionen fortführt und Klischees auf unheimliche Weise bestätigt: "Ein Schriftsteller, der sich unverstanden, falsch gelesen, erniedrigt fühlt, beginnt die böswilligen Kritiker seines Buchs aus Rache zu töten, weil man ihn durch eine andere Brille als die literarische kommentiert, auf eine Hautfarbe, eine Herkunft, eine Religion, eine Identität reduziert: Das ist die reinste Komödie."
Wirklich zum Lachen ist das nicht, es klingt nach poetischer Gerechtigkeit, nach einer politisch korrekten Geschichte über den rassistischen Geist, der 1938 durch Europa wehte - mit der Option, sie auf die Gegenwart zu übertragen. Sarr, der vieles vorwegnimmt, hat diese Interpretation kommen sehen: "Hat sich heute etwas daran geändert?" Schließlich streben die jungen afrikanischen Schriftsteller des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend, über die er schreibt, ebenfalls nach französischer Anerkennung: "Das ist unsere Schande, aber auch unser erträumter Ruhm, unsere Knechtschaft und das vergiftete Trugbild unserer symbolischen Adelung."
Der 1990 in Dakar geborene, heute bei Paris lebende Sarr, der bereits drei Romane veröffentlicht hat, pflegt keine postkolonialen Empfindlichkeiten. Falsche Haltungen spießt er ironisch auf: "W. ist der erste schwarze Autor, der diesen oder jenen Preis erhalten hat, in diese oder jene Akademie aufgenommen wurde: lesen Sie sein Buch, es ist natürlich fabelhaft." Fehldeutungen gräbt er konsequent das Wasser ab: "Wegen all dieser geförderten und preisgekrönten Mittelmäßigkeit, verdienen wir es zu sterben. Alle: Journalisten, Literaturkritiker, Leser, Vertragsleute, Schriftsteller - die ganze Gesellschaft. Was würde Elimane heute tun? Er würde alle umbringen." Elimane ist nicht nur der böse Geist, den der Kolonialismus hervorgebracht hat, den postkolonialen Literaturbetrieb würde er ebenso heimsuchen, weil dieser Literatur aus denselben Gründen - wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen - nicht ernst nimmt: Herkunft gilt mehr als Ästhetik. Wie Fiston Mwanza Mujila setzt Sarr der irreführenden Identitätspolitik Ironie und literarischen Anspruch entgegen.
Die unheimlichen Ereignisse berichtet Siga D. im Rückblick auf ihre wilde Jugend als Nackttänzerin - in der ihre Kollegin unter rätselhaften Umständen stirbt und Elimane sie eines Nachts in einen labyrinthischen Park entführt. Elimane wird zu jenem kathartisch-gruseligen Gespenst, das den Finger auf die Schwächen der Seelen legt und so lange drückt, bis sie verwelken. Wer nach Inspirationsquellen sucht, wird in der Episode fündig: Die Ereignisse nehmen ihren Ausgang im Nachtklub "Vautrin". Ein Schelm, wer an die Pariser Unterwelt aus Balzacs "Menschlicher Komödie" denkt.
Damit ist viel gesagt - und doch fast nichts. "Die geheimste Erinnerung der Menschen" ist wie Elimane: schwer in den Griff zu bekommen. Der Roman strahlt erzählerische und vitale Fülle aus, erzählt von Literaturbetrieb und Nazi-Besatzung, von gutem Sex und traumatisierten Kindern, von Pariser Halbwelt und senegalesischem Dorfleben, von Erstem Weltkrieg und politischer Revolte heute. Dem frustrierten Rezensenten bleibt nur eins: den eigenen Griff zu diesem Buch zu empfehlen. NIKLAS BENDER
Mohamed Mbougar Sarr: "Die geheimste Erinnerung der Menschen". Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser Verlag, München 2022. 448 S., geb., 27,- Euro.
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