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Zuerst erzählt Adriana Altaras vom Aberwitz des Musiktheaterlebens. Dann erscheint "Die jüdische Souffleuse". Eine Reise zu Stätten des Holocaust beginnt.
Von Ursula Scheer
Kann es tolldreister durcheinandergehen als auf diesen Opernproben? Das Ensemble zerstritten, die Intendantin alkoholkrank, der Dirigent abwesend, die Diva verstummt - Adriana Altaras, die als ihre eigene Ich-Erzählerin wieder einmal mitten ins Geschehen springt, glaubt schon jeglichen Wahnsinn erlebt zu haben als Regisseurin an deutschen Bühnen. Munter kämpft sie sich durch den Musiktheateraberwitz in der Provinz, Mozarts "Entführung aus dem Serail" steht auf dem Programm. Doch dann betritt Susanne die Szene, eine Frau wie ein Geist, fast durchscheinend, nuschelnd und von nervtötender Präsenz: die jüdische Souffleuse. Und bringt alles durcheinander. Oder etwas in Ordnung?
Wie eine Klette heftet sich die seltsame Person an die Regisseurin, mischt sich ein, ruft an, steht vor der Haustür, schläft im Gästezimmer, sitzt mit im Auto - was ist das nur für ein Menschenkind? Eine Meschuggene? Oder gar ein Dybbuk, eine dieser armen Seelen, die Körper von Lebenden besetzen und die man oft nur loswird, indem man ihnen hilft? Nichts davon und doch beides und Schlimmeres. Susanne oder Sissele, wie sie eigentlich heißt, offenbart sich als aus Kanada remigrierte Tochter eines Auschwitz-Überlebenden auf der Suche nach ihrer Familie. In Adriana Altaras hofft sie eine Verbündete zu finden, mit der sie aufbrechen kann ins Archiv der Erinnerung und zu Stätten des Grauens wie den ehemaligen Lagern Mauthausen und Theresienstadt.
Es gehört schon eine gehörige Portion erzählerische Chuzpe dazu, über dem Abgrund der Schoa ein derart barock überdrehtes, zugleich mutwillig unglaubwürdiges und furchtlos realitätsgesättigtes Stück Literatur aufzuführen, wie Adriana Altaras es in ihrem Roman "Die jüdische Souffleuse" tut. Dass es sich bei dieser Geschichte zwischen Liebesarien und Kaddisch um einen Roman handelt, macht die Jongleurin mit Erlebtem und Erdachtem gleich zu Beginn unmissverständlich deutlich: Einige Figuren hätten Vor- und Urbilder in der Realität, heißt es, "doch ihre Beschreibungen und Handlungen sind fiktiv".
Darf sie das, ein Holocaustopfer erdichten wie Sisseles Vater, der im "Sonderkommando" von Auschwitz zum Mittäter gemacht, gebrochen und als Gewalttäter zurückgelassen wird? Darf sie an Ausrufezeichen aufgehängte und mit jüdischen Witzen geschmückte Girlanden um den Nullpunkt der Menschlichkeit winden und Firlefanz aus Theatercapricen? Die Diskussion über Fiktionalisierung, wenn es um die Vernichtung der Juden geht, kann sich auch an diesem Roman neu entzünden. Aber natürlich darf Adriana Altaras, was sie tut, nicht weil die Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin Jüdin ist oder in Steven Spielbergs Shoa Foundation als Interviewerin wirkt, sondern weil es ihr um Wahrhaftigkeit geht, nicht um Effekthascherei.
"Die jüdische Souffleuse" erzählt mit Witz und Wärme von den Schatten der Vergangenheit, der auch die zweite und dritte Generation der Nachgeborenen nicht entkommen. Der Holocaust bleibt das Gravitationszentrum, in dessen Bann sie stehen. "Dieses Zentrum ist es, das die Trauer und das Glück, die Geschichten, Geheimnisse, Familienmythen speist", bekennt Adriana Altaras und führt es mit Blick auf ihre Söhne ganz nebenbei vor. "Es ist meine künstlerische DNA. Es füttert alle meine Arbeiten", heißt es weiter - und bestimmt, was sie in Opern von Mozart, Rossini oder Offenbach sieht.
Schon in ihrem Erstling und Bestseller "Titos Brille", der von ihren Eltern und deren Kampf als jugoslawische Partisanen gegen die Faschisten handelt, gingen die Dybbuks um. Adriana Altaras erzählt nicht einfach nur Geschichten, sie lässt sie durch sich hindurchgehen und verhilft ihnen zu neuem Leben. Auch Sissele wirkt wie ein Dybbuk auf die Erzählerin. Da ist es nur konsequent, dass nicht die Souffleuse mit ihrer erschütternden Lebensgeschichte (eine Kindheit im Lager für Displaced Persons, danach auf zwei Kontinenten in Pflegefamilien) oder deren Vater die wichtigste Person im Roman ist, sondern Adriana Altaras selbst. Sie schreibt konsequent aus der Ich-Perspektive, fest verankert in der eigenen Biographie. Wie beim Vorsprechen für ihre erste Theaterrolle, das sie beschreibt, reist sie mit Gepäck: Aus dem mit Familiengeschichten vom Balkan, aus Italien, Deutschland und Israel gefüllten Koffer zieht sie die Requisiten, dass einem der Atem stockt.
Dieses Mal erleben wir sie dabei, wie sie Künstler aus aller Welt und einen seltsam philosemitischen Intendanten orchestriert und nebenbei, wie wir alle, die täglichen Horrormeldungen von Terror, Flucht und Vertreibung wegsteckt. Nach der Premierenparty stehen Debatten über den Rechtsruck in Europa und den Niedergang der SPD an - und dann kommt Sissele. Lästig erscheint diese Personifikation der Vergangenheit zunächst, dann ebnet sie den Weg zum Glück einer unverhofften Familienzusammenführung. Später, in einer warmen isländischen Quelle wie in einem Abklingbecken, steigt die Erkenntnis auf, dass wir nicht auf einer Insel der Seligen leben und leider, wenn wir auf einer solchen festsitzen, nicht viel mit dem Frieden anzufangen wissen. Aber auch eine Frage blubbert an die Oberfläche: Wie es wohl wäre, wenn Adriana Altaras einmal beiseiteträte und den Dybbuks allein die Bühne überließe.
Adriana Altaras: "Die jüdische Souffleuse".
Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 208 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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