Die allermeisten Rezensionen, die ich über dieses Buch gelesen habe, berichten von einem Nach-Wende-Roman, von einer Geschichte, in der es um die Befindlichkeiten der Menschen in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung geht, um die Schwierigkeiten, sich mit den
geänderten Lebensbedingungen zu arrangieren. Ja, darum geht es auch. Ich habe dieses Buch allerdings in…mehrDie allermeisten Rezensionen, die ich über dieses Buch gelesen habe, berichten von einem Nach-Wende-Roman, von einer Geschichte, in der es um die Befindlichkeiten der Menschen in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung geht, um die Schwierigkeiten, sich mit den geänderten Lebensbedingungen zu arrangieren. Ja, darum geht es auch. Ich habe dieses Buch allerdings in erster Linie als die Geschichte einer dysfunktionalen Familie gelesen, als eine Geschichte von massivem psychischen und physischen Kindesmissbrauch.
Die Protagonistin Stine ist 1986 in Wismar geboren, war also bei der Wiedervereinigung drei Jahre alt. Ihre Eltern und Großeltern sind systemtreue Genossen, die mit den neuen Verhältnissen hadern. Doch dieser Umstand kann nicht Schuld daran sein, dass die Mutter ihre Kinder misshandelt, denn sie beginnt damit bereits, als Stine und ihr Bruder noch Babys sind, lässt sie bis zur Bewusstlosigkeit schreien, füttert sie nach der Uhr, kleidet sie nach dem Kalender und nicht nach dem Wetter, verbrüht sie in der viel zu heißen Badewanne. Abhärten will sie sie. Wogegen? Das bleibt ihr Geheimnis. Dass Stine davon tief gezeichnet ist, zeigt sich in der erwachsenen Frau und Mutter, die noch immer aufgeschreckt ist von den Manipulationsversuchen ihrer Mutter, die sich jetzt auch an die Enkelkinder richten. Diese Misshandlungen haben Spuren hinterlassen in Stines Selbstbewusstsein. Weil sie die Person, die sie dadurch wurde, für ihre Kinder nicht sein will, recherchiert sie die Leben ihrer Eltern und Großeltern, denn viel geredet wurde in der Familie nicht, nicht über Vergangenes und auch nicht über Verstorbene. Vorbei ist vorbei, tot ist tot, Deckel drauf, das war die Devise. Wer waren die Eltern früher? Was hat sie zu denen gemacht, die sie als Erwachsene sind?
Stine betreibt ihre Recherche sehr professionell. Sie wendet sich an das Wehrmachtsarchiv, um die Wege ihrer Großväter zu rekonstruieren, wird bei Einwohnermeldeämtern vorstellig und kontaktiert frühere Arbeitgeber der Großeltern und Eltern, um ein möglichst lückenloses Bild zu bekommen. Man könnte diese akribische Nachforschung als Stines Selbstheilungsprozess betrachten.
Neben der vordergründigen Geschichte um Stine wird auch allzu deutlich, dass es viele Dinge in der DDR gab, die es offiziell nicht geben durfte. Kriminalität, Kindesmisshandlung, rechtes Gedankengut - das soll es im besseren Deutschland nicht gegeben haben. Und dann gab es Dinge, von denen man heute lieber nicht mehr wissen möchte, dass es sie gab, wie die Jugendhöfe, Erziehungsanstalten für Kinder und Jugendliche, die nicht in die gängige Schublade passten. Eine umfassende Aufarbeitung fand bislang nicht statt.
Anne Rabe hat ein sehr spannendes, fesselndes Buch über eine völlig verkorkste Familie geschrieben. Dass diese Familie in der Post-DDR-Zeit lebt, erachte ich hinsichtlich der Missbrauchshandlung als zweitrangig. Natürlich hat diese Tatsache grundsätzlich Biografien beeinflusst. Allerdings hat es nicht das Verhalten der Mutter verursacht. Sie ist einfach ein Mensch mit einem maximal schlechten Charakter. Das kommt in allen Gesellschaften vor. Es ist aber ein komplexes, vielschichtiges Buch, das nicht auf den Mutter-Tochter-Konflikt reduziert werden sollte. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich den Roman noch einmal lesen, vielleicht hat dann ein anderer Aspekt für mich mehr Priorität. Mich hat der Roman nachdrücklich beeindruckt. Aber man braucht starke Nerven dafür, es ist definitiv kein Wohlfühlbuch.