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Wie Josef Winkler einmal beinahe die Grabplatte von Chaim Soutine geklaut hätte: In seinem neuesten Buch "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär ..." lässt der Österreicher die Form der Todesanekdote hochleben.
Wer hätte das gedacht, nach so viel preisgekrönter Verzweiflungsprosa? Josef Winkler hat schon einige Zeit nicht mehr an Selbstmord gedacht und schämt sich nicht einmal. Im Gegenteil schreibt er immer populärer und komischer. Er sieht jüngst auch gar nicht mehr so blass und grämlich aus. Mit dem aus dem bescheuerten Schlagertext von Charlie Amberg entlehnten "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" im Jahr 2008 hatte sich eine neue Fröhlichkeit schon abgezeichnet. Der Titel des neuen Buchs setzt die Faxen fort, aber natürlich kommen wieder jede Menge Todesfälle vor.
Stephen Greenblatt hat die Anekdote in der Geschichtsschreibung rehabilitiert, weil sie das Gespräch mit den Toten fördere. So scheint es nur konsequent, dass Josef Winkler, der so gern bei den Verstorbenen weilt, "sie tun mir nichts und sind auch Menschen", die Form der Anekdote für die Literatur wiederentdeckt hat. Darin verwandeln sich viele Begebenheiten aus der traurigen Kärntner Kindheit, die der Winkler-Leser schon kennt. Der Doppelselbstmord zweier Jugendlicher bleibt aber das Attraktionszentrum des Schreibens. Wenn Winklers Religionslehrer Jakob Stingl ihm eine Frage stellte, pflegte er wohl zu antworten: "Ich habe oft versucht, mich mit der Gestalt meiner Mutter und der Gestalt meines Vaters auseinanderzusetzen, peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung." Da lachten die Mitschüler. Stingl fiel später betrunken über eine Stiege und brach sich das Genick, während "die Schwester von Peter Weiss bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte". Den Zusammenhang dieser Ereignisse stiftet Lektüre.
Schon früh nämlich hat Josef Winkler anekdotentaugliche Sätze seiner Lieblingsschriftsteller gesammelt. "Der Tod ist gar nichts! Kinder! Schaut, wie man stirbt!" soll Italo Svevo auf dem Totenbett gesagt haben. "Das einzige Mittel, dem Entsetzen zu entgehen, besteht darin, sich dem Entsetzen zu überlassen", so Winklers Vorbild Jean Genet. Mit "unerhörten, noch nie gesehenen, gehörten und gelesenen Sätzen" hat sich der verzweifelte Kärntner Bauernjunge über Wasser gehalten. Nun scheinen sie sich mühelos in allerlei heitere Histörchen zu fügen.
Der an der Klagenfurter Stadtpfarrkirche begrabene Julien Green, den Winkler seinen "einzigen und verlässlichen Freund" nennt, habe einmal seine Gruft besucht, die gerade betoniert wurde. "Er rutschte in diesem Moment aus, die Schuhe hingen bereits über dem Loch. ,Noch nicht!' sagte Julien Green." Vom Turm dieser Kirche stürzen sich Frauen übrigens gern paarweise auf den Friedhof.
Auch aus Jean Genets Erinnerungen hat sich Winkler die schönsten Anekdoten notiert, so die Geschichte vom Tod der Schwester Zoé, die von einem Zögling der Besserungsanstalt in ein Bassin gestürzt wurde, wo sich ihr Habit kurz seerosenhaft entfaltete. "Die erschrockene Jungfer wagte es nicht, sich im Wasser zu bewegen und zu schreien, und ertrank schließlich unter Kastanienblüten."
Was Winkler besonders interessiert, ist die Gleichzeitigkeit von Todesfällen. Der Maler Chaim Soutine starb am 9. August 1943. Seine Sterbeurkunde trug den Vermerk "Bekannt als Jude!" Zwei Tage später wurde er auf dem Friedhof von Montparnasse begraben. "Zur selben Zeit ereignete sich in seiner Heimat Smilowitsch ein grausamer Massenmord, der das Städtchen fast auslöschte." Auf Seite einundachtzig kann der Leser auch den unter Gladiolen aufgebahrten Maler betrachten, was wiederum etwas mit dem Tod von Winklers Opa zu tun hat.
Winklers Todesanekdoten bereiten Kurzweil, gelegentlich kommt sich der Leser, der die Katastrophen der Kärntner Kindheit mitleidig verfolgt hatte, ein wenig veräppelt vor. Bei Dante schmeckt der Tod bitter (amara), bei Winkler verspeisen die Kinder des Dichters einen Totenkopf aus Zuckerwerk, auf dem "Josef" steht.
FRIEDMAR APEL
Josef Winkler: "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel". Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 152 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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