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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Wie die SPD nach 1945 mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umging
Als Wolfgang Hedler am 10. März 1950 den Plenarsaal des Bundestages betrat, erregte er großen Unmut. Der Abgeordnete der Deutschen Partei (DP) hatte zuvor in einer wüsten antisemitischen Rede ausgeführt, man könne geteilter Meinung sein, "ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist", es hätte vielleicht auch andere Wege zu ihrer "Entledigung" gegeben. Nach seinem Ausschluss aus dem Plenarsaal gab Hedler noch zwei amerikanischen Journalisten im Bundeshaus ein Interview. Daraufhin stürmten Herbert Wehner und einige seiner Fraktionskollegen auf Hedler zu, und einige Abgeordnete der SPD verprügelten ihn an Ort und Stelle.
Szenenwechsel: Im Herbst 1951 traf sich der SPD-Wehrexperte Fritz Erler mit dem früheren SS-Brigadeführer und Generalmajor Otto Kumm, dem Gründer der "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS" (HIAG), zum Gespräch. Es verlief, so Kumm, "völlig sachlich und für die SS sehr erfreulich". Zuvor hatte schon SPD-Chef Kurt Schumacher nach einem Treffen mit Kumm ausgerechnet in einem offenen Brief an Liebmann Hersch, den Vorsitzenden der jüdisch-sozialistischen Organisation "Der Bund", bekräftigt, die Waffen-SS sei in eine "ausgesprochene Pariarolle geraten". Sie dürfe aber nicht "kollektiv haftbar" gemacht werden für Massenverbrechen, mit denen sie kaum nähere Berührung gehabt habe als die Wehrmacht. Auch Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, bedauerte zwei Jahre später, dass die Waffen-SS in einen Topf mit der SS geworfen werde. Das war nun keine exklusive Einschätzung der SPD, die Partei war aber im Vergleich zur Union bei der Annäherung an die Waffen-SS-Veteranen Vorreiter.
Die beiden Episoden markieren die Pole, zwischen denen sich die Sozialdemokratie in ihrer Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus nach 1945 bewegte, wie Kristina Meyer in ihrer Studie zur Vergangenheitspolitik der SPD bis 1990 zeigt. Auf der einen Seite verurteilte man strikt den Nationalsozialismus, seine Steigbügelhalter von rechts und links und gab sich kompromisslos gegenüber Unbelehrbaren. Auf der anderen Seite versuchte man, einstmals irregeleitete "Idealisten" - so der Sprachcode - in die junge Demokratie und in die Sozialdemokratie unter dem vergangenheitspolitischen Motto der Versöhnung zu integrieren.
Man achtete dabei im Zeichen der Blockkonfrontation und des geteilten Deutschlands auf Distanz zum Kommunismus und war auf Abgrenzung zur kommunistisch geprägten "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN) ebenso bedacht wie 1960 zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), als dieser eine aus der DDR gefütterte Ausstellung über "Ungesühnte Nazijustiz" in Karlsruhe zeigte, was zum Bruch mit der SPD führte. Zudem versuchte man, bei der Wiedergutmachung und Nichtverjährung von nationalsozialistischen Morden voranzugehen. Als Alternative zur VVN gründete die SPD bereits 1948 die "Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten" (AvS), die von nun an um die nicht allzu große Aufmerksamkeit der Parteiführung rang.
Standen am Anfang Kollektivschuldabwehr und scharfe Kritik am Vergangenheitsregime der Alliierten, so bringt die Verfasserin die Ära Erich Ollenhauers auf den Begriff der Diskretion. Vergangenheitspolitischen Streit versuchte die SPD auf dem Weg in die Mitte eher zu vermeiden. Auch unter Willy Brandt, der wegen seiner Emigration nach Norwegen zur Zeit des "Dritten Reiches" in den 1950er und 1960er Jahren noch attackiert wurde, blieb ein Versöhnungsnarrativ vorherrschend. Erst mit der Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie "Holocaust" 1979, welche nicht nur den Begriff, sondern die Dominanz der Opferperspektive nach Deutschland brachte, änderte sich das. Nun polarisierte sich die Debatte.
Die SPD gründete auf Anregung ihres Chef-Intellektuellen Peter Glotz 1982 die Historische Kommission beim Parteivorstand. Ob die SPD nun nach der von Helmut Kohl verkündeten "geistig-moralischen Wende" geschichtspolitisch in die Defensive geriet, wie die Autorin meint, bleibt aber angesichts der regen Tätigkeit der Kommission und ihrer Mitstreiter, vor allem aber angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in Wissenschaft, Publizistik und Journalismus zweifelhaft. Stärker als in solchen Wertungen ist das Buch in den zahlreichen Anekdoten, welche eine ganz andere erinnerungskulturelle Welt beleuchten, als wir sie heute in zufriedener Selbstgewissheit gewohnt sind.
Je näher sich die Verfasserin der Gegenwart nähert, umso mehr ermangelt es ihr an professioneller Distanz und Quellenkritik. So zitiert sie häufig umstandslos als Maßstab für zeitgenössische Debatten Beiträge aus Printmedien wie "Der Spiegel" oder "Die Zeit", die doch gerade in der Kohl-Ära im eminenten Sinne selbst Partei waren. Noch gravierender ist eine Parenthese, in welcher die Autorin Ernst Nolte unterstellt, in die "Szene der Holocaustleugner abgedriftet" zu sein. Die Verfasserin versucht erst gar nicht, diese skandalöse Unterstellung zu belegen. Ausweislich des Literaturverzeichnisses hat sie kein einziges Buch von Nolte konsultiert. Bei allem, was am späten Nolte, seinen Spekulationen und Analogiebildungen, kritikwürdig ist, ging es ihm immer um ein Verstehen des Holocausts. Dessen Leugnung hätte sein umfangreiches Werk, an dessen Anfang die philosophische Begründung einer Singularität von Auschwitz stand, vollständig obsolet gemacht. Auch Noltes schärfster Kontrahent Hans-Ulrich Wehler, der sich bis zu seinem Tod mit Nolte auseinandersetzte, hat ihm diesen absurden Vorwurf nicht gemacht. Auf diese Weise kann man den "Historikerstreit" also nicht noch einmal gewinnen, auch nicht, indem man die klugen Ausführungen von Mathias Brodkorb zu diesem Komplex einfach nicht zur Kenntnis nimmt. Von ihm hätte die Verfasserin lernen können, wie man kritisch, aber intellektuell redlich mit unterschiedlichen historischen Standpunkten umgeht.
PETER HOERES
Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 551 S., 42,- [Euro].
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