Elise wird von Tochter und Stieftochter in ein Armenasyl gebracht im Kanton Bern. Still und zurückhaltend ergibt sie sich in ihr Schicksal, versucht, sich dort zurechtzufinden; zurechtzufinden zwischen all den verlorenen Seelen, denen fast nichts geblieben ist. Nichts außer ihren Wünschen, so
wichtig, unbedeutend, groß oder klein diese auch sein mögen.
»1981 wurden die Gesetze zur…mehrElise wird von Tochter und Stieftochter in ein Armenasyl gebracht im Kanton Bern. Still und zurückhaltend ergibt sie sich in ihr Schicksal, versucht, sich dort zurechtzufinden; zurechtzufinden zwischen all den verlorenen Seelen, denen fast nichts geblieben ist. Nichts außer ihren Wünschen, so wichtig, unbedeutend, groß oder klein diese auch sein mögen.
»1981 wurden die Gesetze zur administrativen Versorgung aufgehoben. Bis dahin waren Tausende von Erwachsenen eingesperrt worden, ohne dass sie ein Delikt begangen hätten. Sterilisationen und Abtreibungen waren Teil der Zwangsmaßnahmen gewesen, ebenso die Auflösung von Familien. Unzählige Kinder waren in diversen Heimen oder fremden Familien versorgt worden.« (Dahinter: Nachwort der Autorin, Seite 253)
Katharina Geiser widmet dieses Buch ihrer Ururgroßmutter Elise Linder-Brand (1868-1953), der einzigen Person im Buch übrigens, die nicht fiktiv ist. Der Hintergrund der Geschichte selbst ist tragisch, die historischen Fakten erschütternd, was da in der Schweiz bis in die 1970er Jahre geschah, ist widerlich und menschenverachtend. Ich habe kürzlich ein Buch über sogenannte Verdingkinder gelesen und dachte bis jetzt, schlimmer geht es nicht. Dass dies sehr wohl möglich ist, davon handelt dieses Buch.
»Doch jetzt, als sie sich in Zimmer 3 auf die hölzerne Bettstatt stürzte und sich umsah, begriff sie: Sie hatte mit sieben anderen Frauen einen Raum zu teilen. Nicht einmal ein Nachttisch oder zumindest ein Stuhl stand zwischen den einzelnen Betten. Dafür hockte eine Menge schlechter Luft in diesen Wänden drin.« (Seite 18)
Dieses Buch ist keine leichte Lektüre, aber es ist notwendig darüber zu schreiben, zu lesen und zu sprechen, was passiert ist, damit diese ungeheuerlichen Vorgänge ans Licht kommen, aufgearbeitet werden und den vielen Menschen, die schreckliches durchleiden mussten, Gerechtigkeit geschieht. Elises Schicksal steht zwar im Vordergrund, aber jede der armen Seelen im Buch bekommt ihren Raum, ihre Leben, auch wenn sie fiktiv sind, damit einen Sinn; im Namen der Menschen, die tatsächlich durchleiden mussten, was die Autorin beschreibt. Ein Personenregister ist angehängt, dieses mit filigranen Skizzen ergänzt, sodass jeder Name ein Gesicht bekommt. Mein einziger Kritikpunkt ist, dass ich mir gewünscht hätte, dass dieses nach Vornamen alphabetisch sortiert ist. Im Buch wechselt die Autorin zwischen Vor-, Nach- und Spitznamen, sodass ich leider oft durcheinander gekommen bin. Aber das ist meckern auf hohem Niveau, denn insgesamt ist dieses Buch sprachlich ein wahrer Schatz und ich glücklich darüber, dass ich es lesen durfte.