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Marx lebt: Robert Menasses Frankfurter Poetikvorlesungen
Realismus und Engagement, Aufklärung und Moral, Marx und Hegel - die Bezugspunkte von Robert Menasses Poetikvorlesungen scheinen hoffnungslos antiquiert zu sein. Hier spricht ein Dichter, der mit seinen Texten etwas bewirken, der aufrütteln, wachrütteln möchte, ein Gesellschafts- und Zeitkritiker gleichermaßen. Literatur als Ausdruck der Zeit, aber auch als "eine Art von Trotz gegen die Zeit, von Nichtanerkennung der gegebenen gesellschaftlichen Lebensorganisation und ihrer Erscheinungsformen". Literatur mithin, die den Durchschlupf findet "zur unbeschriebenen Welt" und sich nicht mit der Abbildung des Hier und Jetzt begnügt.
Weil dem so ist, geht es in Menasses Poetikvorlesungen (F.A.Z. vom 14. April 2005) nicht vornehmlich um ästhetische und poetologische Fragen, sondern um eine ätzend-scharfe Analyse und Kritik der Gegenwart - von der Erfassung der "Welt, in der ich schreibe", bis zur "Zerstörung der Welt" als Auftrag und Hoffnungsperspektive. Menasses Bild der Gegenwart ist das einer von Sozialstaats- und Demokratieabbau geprägten Zeit, in der sich der Kapitalismus unter dem Deckmantel der Globalisierung soeben seiner letzten Fesseln entledigt hat - und niemanden dies zu kümmern scheint. Fiel mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt die einzige ideologische Alternative zum westlichen System, so befriedete der 11. September 2001 auch noch dessen letzte Kritiker, die der militärischen Intervention und Beschneidung der Grundrechte im Namen der bedrohten Zivilisation zustimmten, statt die fragwürdigen Züge des eigenen Systems zu monieren. Rettendes scheint nur in der menschlichen Befähigung zum autonomen Handeln, zum "Nichtfunktionieren" auf und darin, daß noch jede Bewegung, die sich am Ziel wähnte, von einem revolutionären Umsturz überrollt und in den Orkus der Geschichte verbannt wurde.
Daß Menasse ein brillanter Polemiker ist, beweist er auch hier: Die EU wurde "von den demokratischen kapitalistischen Staaten zur Überwindung der Demokratie gegründet", Karl Marx' "Kapital" ist "der bedeutendste bürgerliche Bildungs- und Entwicklungsroman", und im Vergleich zu Gerhard Schröder, der seine Mutter, die Sozialdemokratie, erschlagen hat, um seinen Stiefvater, das Kapital, zu befriedigen, "erscheint Ödipus geradezu als heiteres Lustspiel". Allerdings dringt Menasse auch in Bereiche vor, in die man ihm kaum folgen möchte. Das durchgängige Analogisieren mit dem Faschismus etwa stößt spätestens dann an seine Grenzen, wenn der kapitalismusunkritischen Masse "Die Mitläufer sind die Täter!" entgegengeschmettert wird, und die Bezeichnung des Selbstmordattentäters als "Werther in letzter Konsequenz", als "Hans Castorp, zu plötzlichem Aktivismus erwacht", ist, bei aller Sympathie für radikales Gedankenspiel, eine intellektuelle Zumutung.
Die Welt nach 1989 und erst recht die nach 2001 ist eine fundamental andere, die neue Antworten erfordert. Der Romancier Robert Menasse, der in seiner "Trilogie der Entgeisterung" die Welt vor dem Zusammenbruch des Kommunismus vermessen und sich in seiner "Vertreibung aus der Hölle" (2001) der österreichischen Nachkriegszeit und dem siebzehnten Jahrhundert in Portugal und Amsterdam zugewendet hat, hat sie bislang ausgespart. Man darf gespannt sein, welche poetischen Konsequenzen er aus seinen rigorosen Prämissen zieht.
THOMAS MEISSNER
Robert Menasse: "Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung". Frankfurter Poetikvorlesungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 142 S., br., 8,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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