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© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Orhan Pamuks neuer Roman "Diese Fremdheit in mir" handelt von einem Mann, der in den Altstadtvierteln Istanbuls türkisches Hirsebier verkauft - und von seinen Ehefrauen, Vettern, Freunden und Bekannten. Ein Panorama, das besser ein Porträt geblieben wäre
Hier sind sie wieder, all die Namen, die bei Orhan Pamuk das Paradies der Erinnerung beschwören: Kurtulus, Feriköy, Besiktas. Sisli, Mediciyeköy, Çarsamba, Edirnekapi, Kustepe. Harmantepe, Gültepe, Oktepe, Kadirga, Kumkapi, Balat, Fatih, Sultanahmet, Karagümruk, Aksaray. So heißen die Stadtviertel von Istanbul, der türkischen Metropole, der Pamuk sein Leben und Schreiben geweiht hat. Und so heißen auch die Gegenden, in denen Mevlut, der Held von Pamuks neuem Roman, jedes Jahr vom Herbst bis zum Frühling mit seinem Traggestell auf der Schulter durch die Straßen läuft und seine Ware ausruft: "Boza! Boza!"
Boza ist ein aus Hirse und anderem Getreide gebrautes, dickflüssiges, schwach alkoholhaltiges Bier, das auf dem ganzen Balkan und im Nahen Osten konsumiert wird. Die Janitscharen, die Elitesoldaten der osmanischen Sultane, tranken es auf ihren Kriegszügen, der arabische Weltreisende Ibn Battuta bekam es an der Seidenstraße in Zentralasien ausgeschenkt. "Vor der Einführung der Kühltechnik", heißt es auf Wikipedia, sei Boza "ein typisches Wintergetränk" gewesen. Ein Wintergetränk, das auf der Straße verkauft wird, ist das Boza-Bier auch in Pamuks Roman, obwohl seine Handlung bis fast an die heutige Gegenwart heranreicht. Denn Mevlut, der Held, ist das, was Pasolini als forza del passato bezeichnet hat, eine "Kraft der Vergangenheit": ein Straßenverkäufer in einer Zeit, die keine Straßenverkäufer mehr braucht.
Das gibt der Geschichte eine Tonart vor, die aus anderen Büchern Pamuks wohlbekannt ist: das h-Moll der Melancholie. Im "Museum der Unschuld" blickt der Fabrikantensohn Kemal mit den Augen des unglücklich Verliebten auf seine Jugend zurück. In "Schnee" trauert der Dichter Ka im Frankfurter Exil um das Glück, das er in einer osttürkischen Provinzstadt gefunden hat. In "Das neue Leben" reist der Student Osman auf der Suche nach seiner verschwundenen Flamme durch das ganze Land. Reisen, Suchen, Lieben, das sind die Leitmotive bei Pamuk, die Grundbewegungen seines Erzählens. Meistens sind sie vergebens: Das Land gibt seine Geheimnisse nicht preis, die alte Liebe ist buchstäblich alt geworden, der Schnee, der auf die Dinge gefallen ist, kehrt nicht zum Himmel zurück. Meistens. Nur hier nicht. In "Diese Fremdheit in mir" ist alles anders.
Das Buch beginnt mit einer Szene wie von Gabriel García Márquez: Ein junger Mann kehrt in sein anatolisches Provinznest zurück, entführt ein Mädchen aus dem Nachbardorf und merkt erst auf der Fahrt zurück nach Istanbul, dass er die Falsche mitgenommen hat. Bei Márquez wäre das der Anfang eines Dramas gewesen. Bei Pamuk ist es eine Fahrt ins Glück. Denn Mevlut findet in Rayiha tatsächlich die Liebe seines Lebens, obwohl sie nicht diejenige ist, an die er drei Jahre lang Liebesbriefe geschrieben hat. Und als Rayiha später auf tragische Weise stirbt, erringt er, nach gebührender Trauerzeit, doch noch die Gunst ihrer jüngeren Schwester Samiha, von deren Augen er damals geträumt hat. Mevlut, der arme Boza- und Pilav-Verkäufer, der von Hunden gehetzt, von Gaunern ausgeraubt, von der Polizei geschröpft und von seinen Kunden immer mehr im Stich gelassen wird, zieht in der Liebe zweimal das große Los. Seine Taschen bleiben leer, doch er hat das Glück des tüchtigen Toren.
Darin besteht der zweite große Unterschied zu Pamuks früheren Romanen. Bisher hat unser Erzähler immer durch den Mund von Intellektuellen und Großbürgern gesprochen: Journalisten, Rechtsanwälten, Gelehrten, Ingenieuren. Diesmal stellt er einen Mann aus dem Volk, einen Schulabbrecher, Parkplatzwächter, Geringverdiener, ins Zentrum der Geschichte. Deshalb ist "Diese Fremdheit in mir" auch nicht als Ich-Erzählung geschrieben. Nicht nur Mevlut und die Welt, auch Mevlut und sein Autor bleiben sich ein wenig fremd.
Damit diese Distanz aber nicht den Blick auf das Geschehen trübt, hat Pamuk eine ganze Reihe von Ich-Erzählern als Vermittler zwischen uns und Mevlut eingesetzt: seine Frau, ihre Schwestern, seine Vettern und Freunde, seinen Schwiegervater und selbst Randfiguren wie den Paten des Viertels, in dem Mevlut in Istanbul bei seinem Vater aufwächst. Der Roman ist also wie ein Filmporträt aufgebaut, in dem Zeitzeugen das Leben des Porträtierten, das den Hauptstrang bildet, kommentieren: "ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012", wie es im Untertitel heißt.
In dieser zweigeteilten Struktur, diesem Wechsel von Ich und Er, Statement und Erzählung, steckt der Haken von Pamuks Buch. Es ist nämlich, anders als sein Autor uns verspricht, gerade kein Epochenpanorama (wie "Das schwarze Buch" und "Das Museum der Unschuld"), auch wenn Ereignisse wie der türkische Militärputsch von 1980 oder der 11. September 2001 darin mittönen. Es ist die Geschichte eines Mannes und seiner Familie, seines privaten und beruflichen Lebens, seines Glücks und seiner Trauer. Ein Solo für Mevlut. Aber Pamuk hat es zum Oratorium ausgebaut, ohne dass die erzählerische Substanz dabei mitgewachsen wäre. Man muss nicht durch den Mund Rayihas erfahren, dass sie mit Mevlut glücklich und über die Entdeckung, dass seine Liebesbriefe an ihre Schwester gerichtet waren, unglücklich ist: Die Art, wie der Erzähler seine Figuren in der Manier eines Staatsanwalts in den Zeugenstand ruft, entrückt sie uns erst recht. Sie wirken wie Marionetten, die der Puppenspieler Pamuk durch seine Kulisse bewegt. Manchmal wird darin geschossen, ein Liebespaar brennt durch und trennt sich wieder, ein islamistischer Sektenchef nimmt Mevlut in seiner Wohnung die Beichte ab. Aber ein großes Zeitbild entsteht so nicht, eher die Vorlage für eine zartbittere Familienserie über Väter und Söhne, Schwestern und Schwager. Kein schlechter Stoff und doch so viel weniger, als man von Orhan Pamuk erwarten darf.
Am Ende zieht Mevlut wieder mit seinen Boza-Behältern los, kreuz und quer durch die abendlichen Straßen Istanbuls. "Nun begriff er so recht, was er all die Jahre über schon irgendwie geahnt hatte, nämlich dass er auf seinen Streifzügen durch die Stadt das Gefühl hatte, sich im eigenen Kopf zu bewegen." Über diesen Kopf und seine Fremdheit in der Welt hätte man gern mehr erfahren. Aber sein Autor und Erfinder malt in "Diese Fremdheit in mir" lieber ein Gruppenbild als ein Porträt. In diesem kleinteiligen Roman steckt ein großer, der nicht zu Ende gedacht und geschrieben worden ist.
ANDREAS KILB
Orhan Pamuk: "Diese Fremdheit in mir". Übersetzt von Gerhard Meier. Hanser, 592 Seiten, 26 Euro
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