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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zwei Versehrte erzählen sich Geschichten: Bei Michael Gerard Bauer wird aus diesem Plot ein Meisterwerk
Nichts ist gut in der internationalen Jugendliteratur. In den viel-, aber auch den wenig gepriesenen Büchern der letzten Jahre ist es gar nicht so einfach, einen Protagonisten ohne zumindest eine Krebserkrankung, misshandelnde Eltern oder tote Geschwister zu finden. Auf der Suche nach einer Erklärung für all das so aggressiv aufgetischte Leid begegnen der Leserin zunächst ein paar suspekte Erwachsenenvorstellungen über die Aufmerksamkeit von Jugendlichen und die Themen, die sie "heutzutage" zu erregen vermögen, dann die schon weniger suspekte Idee von der Jugendliteratur als letztes verbliebenes Experimentierlabor für bestimmte, aus der eher mit subtilem Elend befassten Erwachsenenliteratur weitgehend verbannte Genres (das Melodram, der sentimentale Roman) und schließlich der beinahe gar nicht suspekte Glaube an ihr bewusstseinsbildendes Potential - ihre Rolle als Trainingsprogramm für das unerfahrene Herz, den ungeübten Verstand
Diese Herstellung von Mitgefühl - im besten Fall für das Leid anderer Menschen, im schlimmsten für das eigene leidende Selbst - verstehen Jugendbuchautoren meist wortwörtlich: Der Leser soll mit den Figuren fühlen, was am einfachsten gelingt, wenn er vergisst, dass er eine Geschichte liest. Einige formelle Merkmale tauchen in diesen immersiven, intensiven Büchern deshalb immer wieder auf - eine fragmentierte Erzählstimme zum Beispiel, die den fragilen Geisteszustand des Protagonisten, sein Gefühl der Selbstentfremdung oder die Unzuverlässigkeit seiner Erinnerungen reproduzieren soll. Die traumatische Vergangenheit quillt gewöhnlich aus den Ritzen der auch noch so sorgfältig verschnürten Gegenwart, in Form von Albträumen, Flashbacks, dem vereinzelten Gespenst. Auch wenn vollständige Heilung unerreichbar bleibt, lassen wir den Protagonisten am Ende in der Regel in besserer Verfassung zurück, als wir ihn vorgefunden haben, oft dank der Hilfe eines neuen Freundes oder der Anwesenheit des allgemein anerkannten Inbegriffs von Hoffnung: der jungen, heterosexuellen Liebe.
Wenn es allein um die schrecklichen Erfahrungen geht, die sie noch vor ihrem sechzehnten Geburtstag gemacht haben, wirken die Mitglieder des zentralen Junge-Mädchen-Duos in Michael Gerard Bauers kürzlich auf Deutsch erschienenem Roman "Dinge, die so nicht bleiben können" zunächst wie personifizierte Stichpunkte aus dem Handbuch für traumatisierte Jugendliche in Jugendromanen: Frida hat ihren Vater nie kennengelernt und ist bei ihrer Mutter aufgewachsen, bis diese am ersten Schultag ihrer Tochter an einer Überdosis starb. Den ersatzfamiliären Einrichtungen, durch die sie anschließend gereicht wird wie in einer Art Crowdsurfing aus der Hölle, entkommt sie mit einem tauben Ohr, Narben von ausgedrückten Zigaretten an den Armen, Narben ungeklärten, vielleicht unaussprechlichen Ursprungs im Gesicht und Erinnerungen an perverse Pflegeväter. Sebastian, den Frida auf einem Uni-Schnuppertag kennenlernt, während dessen das Buch ausschließlich spielt, lebt weniger als Teenager denn als Fotonegativ seines ehemals gewalttätigen und drogenabhängigen, inzwischen toten großen Bruders bei seinen liebevollen, trauernden, verängstigt-kontrollierenden Eltern. Während Frida quält, dass ihr zu viel passiert ist, verhindert Sebastian mit aller Kraft, dass ihm irgendetwas passiert.
Was geschah in der dunklen Zeit?
Eine solche Zusammenfassung der Schicksalsschläge der Hauptfiguren und ihrer Gefühle darüber erfordert normalerweise höchste Konzentration, eine Bereitschaft des Kritikers, aus einem weiten Meer an schmerzlichen Offenbarungen und zunehmend offenherzigen Gesprächen die alleraussagekräftigsten, finster leuchtendsten Daten herauszufischen. Hier nicht. Das erste Mal, dass jemand in diesem Buch jemandem etwas Intimes anvertraut, findet sich auf Seite 118 von 222, das nächste Mal auf Seite 145. Bis dahin gibt es - ein paar dezente, erst bei erneuter Lektüre wirklich aussagekräftige Hinweise ausgenommen - keine ominösen Anspielungen auf "jene dunkle Zeit" oder das, "was damals geschah".
Stattdessen lässt Bauer Frida, Sebastian und dessen von Tragödien verschonten Freund Tolly eine scheinbar unendliche Reihe harmloser Dinge erleben, lässt sie vor allem darüber reden, wie sie eine scheinbar unendliche Reihe harmloser Dinge erleben. In ausgedehnten Mittags- und Kaffeepausen diskutieren sie über die Augenbrauen und das künstlerische Vermächtnis von Fridas Namenspatronin Frida Kahlo und, nach einer Vormittagsvorstellung im Uni-Kino, den Film "Casablanca" als nichtromantische Nichtkomödie. Lange ist die dramatischste Enthüllung des Romans die Lösung des Rätsels um Tollys Spitznamen, für die Frida mit einem Plastikmesser aus der Cafeteria zur "Königin der Schlaumeier" gekrönt wird.
Die mit Abstand dringlichste Textnachricht, verschickt von Tolly, führt Sebastian und Frida nirgendwo anders hin als auf Ebene 2 des Gebäudes S7, wo sie ein ganzes Kapitel damit verbringen, den genauen Langweiligkeitsgrad des sogenannten Harztropfenexperiments zu erörtern, eines Langzeitversuchs der Universität von Queensland zur Beobachtung des Tropfverhaltens von Pech - übrigens der einzige Verweis auf den Handlungsort, Brisbane, wo Bauer lebt und vor seiner Karriere als einer der renommiertesten Jugendbuchautoren Australiens mehrere Jahrzehnte als Lehrer gearbeitet hat.
Dass der Langweiligkeitsgrad des Romans null beträgt, liegt am - auch in Ute Mihrs Übersetzung - außerordentlichen rednerischen Talent der Figuren, das allerdings nur dann zum Vorschein kommt, wenn es nicht um ihre Probleme geht. Für jeden, der schon einmal Probleme hatte - also nicht Tolly, der, einzig von seinem unstillbaren Appetit und etwas zu nerdigen Vater geplagt, so etwas wie einen Möglichkeitsbeweis für ein unbeschwertes Leben liefert -, wird dies plausibel klingen.
Nichts soll sich in die Seele brennen
Bauers ungewöhnliche Entscheidung, seine Charaktere eben nicht zu zwingen, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, mit denen sie sich offensichtlich nicht auseinandersetzen wollen, zielt auf einen leisen Realismus: Auch Menschen mit verwundeten Psychen sind die meiste Zeit der meisten Tage nicht damit beschäftigt, von ihrer Vergangenheit heimgesucht zu werden und bahnbrechende Einsichten über ihr Befinden zu erlangen, sondern damit, Müsliriegel zu essen, in der Schlange vor dem Kino unerwartete Freundschaften zu schließen und in letzter Minute ein paar unbedeutende Pläne zu ändern. Gleichzeitig beleuchtet Bauer eine profunde Wahrheit über das traumatisierte Gehirn - seine Tendenz, auf der Flucht vor sich selbst genau solche Erlebnisse anzustreben, die exakt so lange unterhaltsam, öde oder traurig sind, wie sie andauern, statt sich für immer in Körper und Seele zu brennen.
Neben Zerstreuung erproben Sebastian und Frida weitere Selbstfluchtwege: Sebastian, der den Roman in der ersten Person erzählt, spart methodisch alles aus, was man für die relevantesten, weil erschütterndsten Informationen über sein Leben halten könnte. So eisern ist sein Griff um diese Informationen, dass er versucht, seine Geschichte so weit von dramatisch-tragischen Genres wegzurücken wie möglich. Dem Leser seine erzählerische Vertrauenswürdigkeit und Kontrolle über sein Material versichernd ("Du kannst mich beim Wort nehmen"), beginnt er sogar, sie als, wie er es nennt, "kitschig romantische ,Stinknormaler Typ bändelt mit supersüßem Mädel an'-Liebeskomödie mit Wohlfühlfaktor" zu erzählen.
Bis Frida ihn mit einer geschickten Lüge aus der "Es ist kompliziert"-Phase einer solchen Komödie befreit, kann und soll man glauben, die Abweisung durch das "Perfekte Weibliche Wesen" (eine Taylor-Swift-Doppelgängerin namens Helena, der sich Frida als Sebastians Sandkastenfreundin vorstellt) sei das größte ihm widerfahrene Unglück. Wie sich herausstellt, ist Frida eine Meisterfabrikantin noch ganz anderer alternativer Fakten - über ihre Familie und ihr Ohr, die alte Biographenweisheit bestätigend, dass man eine Person erst dann richtig kennenlernt, wenn man herausfindet, worüber sie lügt.
Aber, wie Sebastian gerne zu sich selbst sagt, um sich aus besonders deprimierenden Gedankenschleifen herauszumanövrieren, dies ist kein oder nicht nur ein Buch über Verdrängung. Einander die Unwahrheit zu sagen - in den Händen eines ängstlicheren Autors wohl nicht viel mehr als ein Symptom des Zustands, den es zu überwinden gilt - wird hier ebenso zur kreativen, kollaborativen und selbstneuerfinderischen Tätigkeit, einem Sprungbrett für künftige Wahrheiten: Als Frida einem Raum voller Theatersportler erklärt, als Tochter einer Bestatterin und eines Holzfällers eigne sie sich hervorragend für den Posten einer Chef-Exekutorin, erntet sie zu Recht Applaus und die Bewunderung ihrer Freunde. Die Saga von der Sandkastenfreundschaft dichten sie immer wieder gemeinsam um. Wenn das Leben hätte anders sein können, könnte es dann nicht auch anders werden?
Wenn Bauer eines der wesentlichen Prinzipien des Traumaromans beständig umgeht - dass es hilft, darüber zu reden - und seine Figuren stattdessen über etwas anderes reden lässt, dann nicht, um zu suggerieren, Schmerz ließe sich beiseiteerzählen, sondern um diesem Schmerz etwas entgegenzusetzen. Wenn Frida lügt, dann nicht nur, weil sie hofft, Geschehenes auf diese Weise ungeschehen zu machen, sondern auch, um Raum zu schaffen für etwas Neues. Wenn Sebastian uns immer wieder mit metafiktionalen Randbemerkungen über den Unterschied zwischen Katastrophenfilmen, "dummen Kitsch-Rom-Com-Drehbüchern" und "meinem beschissenen Leben" aus der Handlung reißt, dann nicht nur, um uns abzulenken, sondern auch, um darauf hinzuweisen, dass die Art, wie man eine Geschichte erzählt, diese Geschichte automatisch verändert.
Als die beiden am Ende verabreden, einander von nun an zu glücklichen Erinnerungen verhelfen zu wollen, haben sie das bereits getan. Und der Beweis dafür ist der Roman.
KATHARINA LASZLO
Michael Gerard Bauer: "Dinge, die so nicht bleiben können." Roman.
Aus dem Englischen von Ute Mihr. Carl Hanser Verlag, München 2021. 224 S., geb., 15,- [Euro]. Ab 13 J.
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