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© BÜCHERmagazin, Jeanette Stickler
In Dacia Marainis neuem Roman "Drei Frauen" ringen drei Generationen um ihren Lebensentwurf
Die Wahrheit ist ein arg strapaziertes Gut: Sie muss modelgleich einherschreiten, denn nur die Lüge hat kurze Beine, darf aber immerhin die Körnchengröße frei wählen; mitunter gibt sie sich so aufdringlich, dass man ihr ins Auge sehen muss, obendrein ist es strikt verboten, sie unter den Teppich zu kehren, weil sie dann nicht mehr im Wein liegen kann. Wenn sie lodernd als Fackel durch ein Gedränge getragen wird, versengt sie meist jemandem den Bart, aber was soll's, eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge.
Versengen oder nicht versengen, das ist auch die Frage im Hause von Gesuina, Maria und Lori. Für Oma Gesuina ist klar: "Die Wahrheit muss auf den Tisch! Man löst ein Problem nicht, indem man es versteckt." Enkelin Lori muss ihrer Mutter Maria gefälligst gestehen, dass sie von der Fernbeziehung François schwanger ist. Gesuina ahnt zwar, dass ihrer Tochter dieser Schicksalsschlag zusetzen und deren heile Welt danach in Trümmern liegen wird, doch selbstverständlich vermutet sie nicht, dass Maria einen Suizidversuch unternehmen und zur Komapatientin in Hauspflege wird. Lori verzweifelt: "Mama, bitte stirb nicht, ich brauche dich und möchte mein restliches Leben lang nicht bereuen müssen, die Wahrheit gesagt zu haben, ich bitte dich, mach die Augen auf, sieh mich an, sag mir, dass es dich noch gibt."
Der Konflikt in Marainis "Drei Frauen" ist wirklich diese alte Frage, der eigentliche Reiz dieses Romans liegt in zwei anderen Momenten. Da ist zum einen die sprachliche Gestaltung. Jede Form der Kommunikation "lag in der Familie". Als ehemalige Schauspielerin und technisch voll auf der Höhe spricht Gesuina in burschikosem Tonfall in ein Diktiergerät und pflegt eine Internetaffäre. Maria schreibt ihrem Geliebten in Lille lange Briefe per Hand. Lori hasst Tagebücher, legt aber wegen der ererbten Schreibaffinität doch eines an. Diese Stimmen ergänzen sich gegenseitig und lassen ein ganzes Spiegelkabinett von Perspektiven entstehen.
Die deutsche Fassung liest sich gut, ein Blick ins Original lässt jedoch stutzen. Gesuina mit ihrem derben Vokabular ist gelungen. Loris elendlange Sätze und ihre Kleinschreibung zu Satzbeginn sind im Deutschen jedoch etwas handlicher und orthographisch korrekt. Die wortbewusste und penible Maria, Übersetzerin und leidenschaftliche Leserin, greift zum Stilmittel der Wiederholungen, das im Deutschen fehlt. Diese translatorischen Entscheidungen erschließen sich nicht unbedingt, festzuhalten bleibt jedoch, dass die Stimmen auch im deutschen Text individuell klingen und die sprachliche Qualität überzeugt.
Dies zeigt sich vor allem in den ambivalenten und offenen Aspekten. Gesuina mag apodiktisch ihre Forderungen gegenüber Lori vertreten, der Gesamttext bewegt mit den Fragen, die er aufwirft: "Dieses Internet ist wirklich eine Geißel der Menschheit", hält Maria in einem Brief an François fest, "ich finde das abstoßend, ein gefühlloses Wesen, das nur auf dem Bildschirm oder in Mails existiert, eine verlogene Welt, niemand sagt die Wahrheit, Lügen über Lügen und gefälschte Fotos." Doch dann bricht auch in ihre Welt die Lüge ein, François betrügt sie, und es wird geschickt angedeutet, dass sein Leben in Frankreich womöglich auch nur fake ist. Maraini kombiniert hier geradezu meisterlich die uralte Geschichte des Fremdgehens mit der Orientierung in einer digitalen Welt.
Die inzwischen zweiundachtzigjährige Autorin wird mittlerweile gern als Grande Dame bezeichnet, ein Titel, dem immer ein wenig von altem Eisen und Nachsicht gegenüber literarischen Lässlichkeiten anhaftet. Nichts könnte irreführender sein. Maraini greift zwar auf traditionelle Mittel des Erzählens zurück, stofflich aber auf aktuelle Gegebenheiten. Darüber hinaus gelingt es ihr, eine Gesuina zu zeichnen, die sich sprachlich und erotisch freier verwirklicht als Tochter und Enkelin, ohne indes je peinlich zu sein. Sie genießt Bewunderung von Männern und wäre als Autorin des Gedichts "avenidas" denkbar, während Maria urteilt: "Warum sollte sich ein gutaussehender Mann um die fünfundvierzig, ein wohlhabender Kaffeehändler, mit einer Sechzigjährigen einlassen? Noch ganz passabel, zugegeben, aber fast zwanzig Jahre älter."
Das breitgefächerte OEuvre Marainis umfasst essayistische Arbeiten über Alberto Moravia, autobiographisch grundierte Werke wie "Ein Schiff nach Kobe" über ihre Kindheit in Japan und historische wie zeitbezogene Romane. Schlechte Texte hat sie nie vorgelegt, einige ragen heraus, beispielsweise die "Erinnerungen einer Diebin". Ihr Opus magnum ist sicher "Die stumme Herzogin", in dem sie historischen Roman und eine Geschichte um Kindesmissbrauch und Zwangsverheiratung mit seltener literarischer Qualität verknüpft. Die "Drei Frauen" fügen sich nahtlos ein. Die Wahrheit braucht keineswegs klammheimlich unter den Teppich gekehrt zu werden: ein lesenswerter Roman.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Dacia Maraini: "Drei Frauen". Roman.
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio Verlag, Wien 2019. 182 S., geb., 20,- [Euro].
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