Hannah lag weinend im Bad, grundlos. Ihr Leben sei großartig, schicke Altbauwohnung, guter Job, tolle Freunde, das sagte ihr jeder. Der Kritiker in ihrem Kopf jedoch trommelte ständig auf sie ein, rief sie jeden Morgen um 04:37 Uhr aus dem Schlaf, um sie mit ihren Dummheiten und Unfähigkeiten zu
konfrontieren, dabei gab sie sich die allergrößte Mühe. Jeder Tag war minutiös verplant. Sie gab sich…mehrHannah lag weinend im Bad, grundlos. Ihr Leben sei großartig, schicke Altbauwohnung, guter Job, tolle Freunde, das sagte ihr jeder. Der Kritiker in ihrem Kopf jedoch trommelte ständig auf sie ein, rief sie jeden Morgen um 04:37 Uhr aus dem Schlaf, um sie mit ihren Dummheiten und Unfähigkeiten zu konfrontieren, dabei gab sie sich die allergrößte Mühe. Jeder Tag war minutiös verplant. Sie gab sich zwischen Meetings, Videokonferenzen und Seminaren die Türklinke in die Hand. Danach zwang sie sich zu Einkauf und Sport und versuchte noch Verabredungen unterzubringen. Am späten Abend verdrängte sie die Schmutzwäsche, aß etwas Schnelles und beschallte sich mit Serien, um runterzukommen. Sie brauchte eine Auszeit und mietete für drei Tage eine Holzhütte.
Sie steht am Fenster und schaut in die schneebedeckten Bäume, die Kaffeetasse in der Hand dampft. Sie versucht das Gefühl der Pflichtlosigkeit zu erfühlen. Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, die Wohnung zu putzen und die Post abzuheften. Der Schneeregen verwandelt sich in dicke Flocken. Was, wenn sie eingeschneit wird oder sich verletzt und keiner findet sie hier. Wie war sie bloß auf die blöde Idee gekommen, diese Einöde zu wählen? Ein roter Schneeanzug reißt sie aus ihren Gedanken, darin steckt ein kleines Mädchen, das vielleicht acht oder neun ist. Sie stapft entschlossenen Schrittes den Weg an ihrem Fenster vorbei, bleibt stehen und sieht sich um. Sie legt sich rücklings in den Schnee und schiebt die Arme auf und ab. Hannah zieht ihr Jacke an und tritt vor die Haustür: „Was machst du da?“ Das Mädchen setzt sich auf, beobachtet Hannah, lächelt: „Einen Schneeengel. Willst du auch?“ Hannah verneint, stellt sich vor und erfährt, dass das Kind Sophie heißt.
Fazit: Ina Bhatter hat in ihrem Debüt das Leben einer Frau Mitte dreißig beleuchtet. Die Protagonistin verliert sich im Alltag. Das Bedürfnis, allen gerecht zu werden, lässt sie ausbrennen. Kurz vor der tiefen Depression zieht sie die Reißleine und fährt drei Tage in eine einsame Holzhütte. Dort trifft sie auf ein Mädchen, das sie an ihre eigene Kindheit erinnert. Die beiden freunden sich an und die Interaktionen mit Sophie bringen Hannah dazu, sich selbst zu hinterfragen. Wie ist sie in diesen Alltagsstrudel geraten? Warum fühlt sie sich mit sich selbst unwohl? Wir geht sie künftig mit gesellschaftlichen Erwartungen um? Die Stimmfarbe der Autorin ist ruhig und präzise. Sie zeigt mir die Anforderungen, die an eine Frau Mitte dreißig gestellt werden. Eigene Vorstellungen und Erkenntnisse aus Erziehung und Freundeskreis stellen sich bei näherer Betrachtung vielleicht als falsch heraus, aber die Alltagszeit ist so knapp, dass alles wichtiger scheint als Innenschau. Die Debütantin hat eine fein austarierte Geschichte über Selbstfindung und Selbstfürsorge geschrieben, die sich auch ganz wunderbar als Weihnachtsgeschenk eignet, gerade weil es vielen Frauen so geht.