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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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Ulrike Sterblichs Roman "Drifter"
Das von ihm so geschätzte "längere Gedankenspiel", das sich "in der Mitte zwischen Traum und Kunstwerk" befindet, hat Arno Schmidt als einen unserer häufigsten und wichtigsten Bewusstseinsvorgänge bezeichnet, der etwas Schönes mit sich bringt: nämlich "Trost & Stärkung".
Das passt gut zu Ulrike Sterblichs neuem Roman "Drifter", dessen Gedankenspiel damit beginnt, einen Erzählton zu finden, der an klassische Jugendgeschichten erinnert, also etwa an den "Fänger im Roggen" oder "Tschick" - diesen Ton dann aber konfrontiert mit Inhalten der verdorbenen Erwachsenenwelt. Das ist in diesem Fall die des nicht mehr schönen Internet, das seine Unschuld längst verloren hat, das zu einem Ort der Manipulation und des Hasses geworden ist und, man denke auch an die aktuelle Berichterstattung zum Thema, noch viel hässlicher wäre, wenn nicht sogenannte Content- Moderatoren rund um die Uhr das Furchtbarste herausfilterten.
In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Hauptfiguren, die auf die Jugendbuchnamen Wenzel und Killer hören, aber längst groß sind: Der eine ist der Erzähler des Romans und arbeitet anfangs noch im Social- Media-Team einer Fernsehredaktion, der andere, sein bester Freund seit Kindheitstagen, ist jüngst aufgestiegen zum "PR-Chef eines Lebensmittelgiganten". Killer ist also der Erfolgreichere (Kleidungsstil: "Smart Casual Punk"), außerdem Spontanere, der von Wenzel für seine Geistesblitze seit jeher bewundert wird. Vielleicht sogar geliebt, aber das Buch deutet in langen und gewitzten Passagen an, dass Freundschaft vielleicht sogar noch größer und bedeutender ist als Liebe. Sein Mittelteil, der in die Schulzeit der beiden zurückführt, ist tatsächlich ein Jugendroman, der viel von Mauerblümchen, Langweilern, Trollen und eben Killern handelt.
Ein märchenhafter Blitz zu Beginn aber stellt das Erwachsenenleben der beiden auf den Kopf: Von ihm getroffen, wird Killer vom Erfolgsmenschen plötzlich zum Hippie, der Zeit mit seiner Mutter verbringt, während der Erzähler nach der Begegnung mit einer geheimnisvollen Influencerin namens Ludovica Malabene, kurz Vica, zu Erfolg und Glamour findet. Auf ihrem beliebten Videokanal wird Wenzel nun zuständig für die Moderation, die ihm im Vergleich zur früheren Tätigkeit wie ein "warmes Zimt-Vanille-Schaumbad" vorkommt: "Niemand verhielt sich beleidigt, sarkastisch, passiv-aggressiv oder aktiv-aggressiv, niemand schrie Zensur oder Cancel Culture." Das Schaumbad bringt auch noch viel Geld, und mit ihrer Assistentin, einer "barbiefizierten Version von Pippi Langstrumpf", macht Vica Wenzels Leben zu einem Party-Traum. Spätestens als die Protagonisten den Keller ihres Wohnhauses in einen Escape-Room verwandelt sehen, in dem Wenzel die "Schrumpfversion meines alten Kinderzimmers" erkennt, stellt sich die Frage, was innerhalb dieser Erzählung Realität und was tröstendes Gedankenspiel ist.
Die Autorin mit dem Künstlernamen Ulrike Sterblich, geboren 1970 in Berlin und publizistisch vertraut mit vielen Formen von Comic und Satire bis Sachbuch, nutzt dieses Gedankenspiel oft auch zur bissigen Darstellung von Kultur- und Medienszene ("Gibt es auch Horror-Opern?" - "Du, alle Opern sind Horror!"), außerdem zur Unterbringung von so manchem Nerd-Diskurs über Filme, Serien und Internetforen.
Dabei mischt sie unter viele bekannte Namen und Titel sehr erfindungsreich auch neue, unbekannte - zuvorderst den eines Autors namens K:B Drifter, den die Protagonisten des Buches verehren und von dem Wenzel in den Händen der surrealen Vica gar schon einen neuen, noch gar nicht veröffentlichten Roman gesehen haben will.
Ob es diesen Roman im Roman überhaupt gibt, ob er, wenn ja, nur "albernen Quatsch" enthält und wer sich hinter dem Pseudonym "Drifter" verbirgt, diese Rätselfragen gehören zum Spiel der Erzählung. Für den Leser des vorliegenden Buches, das nun seinerseits "Drifter" heißt, ist es ein zusätzliches Signal dafür, dass manche Dinge schon existieren, sobald sie in unserer Phantasie vorhanden sind. JAN WIELE
Ulrike Sterblich: "Drifter". Roman.
Rowohlt Hundert
Augen, Hamburg 2023. 288 S., geb., 22,- Euro.
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