Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Wie rechtfertigt man Gewaltanwendung? Philipp Ruch zeigt am Beispiel der griechischen Polis, welchen Preis die Ehre in der Antike hatte
Zuweilen reibt man sich die Augen angesichts der Tatsache, manches Narrativ noch derart wirkmächtig zu sehen, dass es sich lohnt, dagegen anzuschreiben. Dazu gehört die Erzählung von der kulturellen Evolution, in der dem Recht eine fundamentale Rolle als Instrument der Rationalisierung archaischer gesellschaftlicher Zustände zugewiesen wird.
Der amerikanische Rechtshistoriker Raymond Westbrook hat einer derartigen Geschichtsschreibung in seinem letzten, 2010 postum erschienenen Essay eine dezidierte Absage erteilt und zugleich neue Paradigmen für die Betrachtung früher Rechtsordnungen gefordert. Philipp Ruch konterkariert die zivilisatorische Fortschrittsgeschichte des Rechts nun gleich unter zwei Aspekten: Ehre und Rache sind für ihn keine anthropologisch zu verortenden Größen, die das Recht erst einhegen musste, um zivilisierte Gemeinwesen entstehen zu lassen. Vielmehr habe das Recht die Emotionalität im Zusammenhang mit Ehre und Rache überhaupt erst hervorgebracht.
Mehr noch als eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts - so der Untertitel des Buchs - schreibt Ruch damit eine (griechische) Rechtsgeschichte der Affekte um Ehre und Rache. Seine Quellen sind die homerischen Epen sowie die Philosophen, Dramatiker und Historiographen der frühen und klassischen Polis. An ihnen lässt der Autor die von ihm diagnostizierte Vorgängigkeit des Rechts vor Ehre und Rache plastisch werden, welche er damit zugleich als hochorganisierte Formen des Rechts charakterisiert: Dass Ehre und Rache eine handfeste Wertigkeit besitzen, zeigen der Versuch Agamemnons, den Zorn des Achilles durch großzügige Ehrengaben zu besänftigen, und das Bemühen Hektors, die Rache für den Tod des Patroklos, die der Pelide schwört, durch materielle Leistungen abzulösen.
Der gleiche Mechanismus tritt zutage, wenn Odysseus die Freier seiner Gattin Penelope zur Verantwortung zieht; die vollzogene Rache muss sich allerdings am bestehenden Recht messen lassen und wird damit zweifelhaft. Wie sehr die materialisierte Ressource Ehre der normativen Regelung bedarf, um überhaupt wirkmächtig zu sein, wird augenfällig etwa im Fall der Ehrenspeisung im Prytaneion, wie sie Sokrates nach Platons Apologie als Strafmaß beantragte. Das dürfte auch dem rechtshistorisch weniger bewanderten Leser ohne weiteres einleuchten. Befremdlicher (und dem Fortschrittsgläubigen unbequemer) ist da schon Ruchs Beobachtung, dass die werdende Staatlichkeit in der Polis des sechsten Jahrhunderts das Privatstrafrecht institutionalisiere, damit aber keine Milderung, sondern gerade eine Verschärfung des Racherechts einhergehe.
Hier gelingt es dem Autor, das Irritationspotential der uns fremd gewordenen antiken Quellen fruchtbar zu machen. Für den Konnex einer Verschärfung von Strafen mit der Entstehung einer "bürgerlichen" Gesellschaftsschicht böte etwa das berühmt-berüchtigte altbabylonische Talionsprinzip ("Auge um Auge"), das seinerseits ein zuvor geltendes, milderes Sanktionssystem von Geldbußen modifizierte, ein sinnfälliges Beispiel: Auch hier könnte die Identitätsstiftung des sozialen Status als Bürger durch exklusive, allerdings verhandelbare rechtliche Härte befördert worden sein. Überhaupt hätte sich der eine oder andere Seitenblick auf die Nachbarn der Griechen gelohnt: So zeigt für den Aspekt des Ehrverlusts die römische Infamie ein weiteres, ausdifferenziertes Sanktionssystem, das nachgerade paradigmatisch und vielleicht noch deutlicher als in Griechenland abbildet, wie effizient in sozialer Hinsicht ein rechtlicher Mechanismus sein kann, der zur gesellschaftlichen Marginalisierung führt.
Dass Philipp Ruch, Gründer des "Zentrums für politische Schönheit", immer wieder Anleihen bei jüngeren Epochen macht, ist - da stets transparent - methodisch weitaus weniger ehrenrührig, als die einleitende captatio benevolentiae zugunsten "argumentativer wie diskursiver Transhistorizität" suggerieren mag. Gleiches gilt für das vorangestellte Zielen auf die "post-honor society", das dem Leser allenfalls die Lust an den eigenen Schlussfolgerungen raubt. Allerdings bleibt beispielsweise die Referenz auf zeitgenössische sogenannte Ehrenmorde als unzivilisiertes Phänomen unterkomplex, zumal sich an ihnen gerade die postulierte Rechtsförmigkeit derartiger Racheakte problematisieren ließe, die sich zur Paralleljustiz zu mausern scheint.
Umgekehrt beweisen die von Ruch gewählten Beispiele aus dem Altertum immer wieder, wie gut sie sich zur Erforschung überzeitlicher Strukturen eignen: So lässt sich etwa am zwischenstaatlichen Konflikt zwischen Athen und Mytilene unschwer ablesen, dass auch und gerade demokratisch verfasste Gemeinwesen für die Anwendung von Gewalt gewisser Rechtfertigungsnarrative bedürfen, die über den reinen Entscheidungsprozess hinausgehen - ein Exempel, das in jüngerer Zeit häufiger und auch in anderen Kontexten bemüht wurde.
Die Studie bietet zwar weder grundlegend neue Forschungsparadigmen noch Handlungsanweisungen für moderne "ehrlose" Gesellschaften und leider auch keine Register, mittels derer sich die eindrucksvolle Vielzahl von Quellen und Beispielen einfacher erschließen ließe. Doch sie bereichert unseren Blick auf die Quellen des Altertums, und damit auf uns selbst, um mehr als eine Facette.
GUIDO PFEIFER
Philipp Ruch: "Ehre
und Rache". Eine
Gefühlsgeschichte des
antiken Rechts.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2017. 437 S., br., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main








