Marfutova, Yulia
Eine Chance ist ein höchsten spatzengroßer Vogel
… und Marina ergreift diese Chance. Sie möchte von Anfang an weggehen, und erst nach und nach lernt sie, dass die jüdische Herkunft ihrer Mutter ihr dabei helfen könnte. Es fallen Wörter wie Zionismus und Antizionismus,
Perestrojka und und Sochnut.
Je nach Erzählperspektive wird die Sprache intellektuell, naiv, manchmal auch…mehrMarfutova, Yulia
Eine Chance ist ein höchsten spatzengroßer Vogel
… und Marina ergreift diese Chance. Sie möchte von Anfang an weggehen, und erst nach und nach lernt sie, dass die jüdische Herkunft ihrer Mutter ihr dabei helfen könnte. Es fallen Wörter wie Zionismus und Antizionismus, Perestrojka und und Sochnut.
Je nach Erzählperspektive wird die Sprache intellektuell, naiv, manchmal auch zum inneren Monolog. Die Sprache greift so virtuos ineinander wie die Zeitebenen. Denn Zeit ist ja niemals linear, es ist immer eine Gleichzeitigkeit. Das Vergangene ist nie vergangen, es ist immer bei uns. So wie die Geister in der Zeit, die Stimmen, die verschiedenen Akteure.
Da sind die Mäuse, sie erzählen die Geschichte. Denn wer soll sie sonst erzählen, die Geschichten, wenn nicht die Mäuse, die sich so schmal machen können, dass sie durch die kleinsten Ritzen gelangen? (S. 97)
Sie erzählen, uns, 17, 16 und 10, von Marina und ihrer Mutter Nina, von Vera und ihrem Vater, der die Lampe genannt wird, weil er nicht sprechen und nicht aufstehen kann. Sie erzählen von den 1980er-Jahren in der Sowjetunion und der jüdisch-russischen Familiengeschichte. Die Mäuse müssen erzählen, denn Nina, Marinas Mutter, sagt kein Wort.
Ist alles wahr? Kann das alles so gewesen sein? Es gibt keinen kongruenten Erzählstrang, es sind Stückchen, die uns hingeworfen werden, aus denen sich ein Bild zusammensetzt. Aus desolaten Verhältnissen, Hoffnung, dem festen Glauben an die Träume und die Geister. Dazwischen ist eine junge Frau, die ihre Stimme und ihren Weg sucht, fest gewillt die spatzengroße Chance zu ergreifen, sobald sie sich zeigt.
Dieser kurze Roman ist Migrationsgeschichte, hohe Erzählkunst und Experiment. Wie kann die Erzählung der Vergangenheit funktionieren, wann ist es Fiktion und wann kann es wahr sein? Dabei entsteht so viel Raum für Assoziationen und Interpretationen, für Freude an der Sprache und fürs Recherchieren. Der Text fordert sogar explizit dazu auf.
Der Anfang war etwas hakelig, aber dann war ich voll im Buch. das ist die schönste Form von Sprache, Emotion, Magie und der Härte des Lebens. Traurig, humorvoll, hart, perspektivisch spannend und so vielschichtig, wie das Leben eben ist.