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Kluger, sehr literarischer Kriminalroman, der viel über die Menschen und die Gegenwart in Österreich erzählt.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
Paulus Hochgatterer kann Krimino- und Psychologie
Es ist gerade ein bisschen viel, was alles auf die Kleinstadt Furth am See herniederprasselt. Die fiktive Idylle zwischen Badesteg und Wanderweg hat es mit einer veritablen Verbrechenswalze zu tun. Zunächst trifft es ältere Menschen: Ein Mann fällt angeblich von einer Leiter, sein Körper ist übersät von Hämatomen; eine Klosterschwester hat mit einem scharfen Löffel Risotto gegessen, das sich als Katzenfutter entpuppt; ein Säufer hat sich die Kopfschwarte aufgeschlitzt, angeblich an einem Ast. Auf das Haus eines rechtspopulistischen Politikers wird ein Graffito-Anschlag verübt, den Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes trifft bei der Fronleichnamsprozession eine Stahlkugel an der Schläfe. Am rätselhaftesten ist die Entführung der zehnjährigen Tochter eines aggressiven Mittelständlers - eine Lösegeldforderung unterbleibt.
Der österreichische Schriftsteller und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer mag es nicht, wenn man seine beiden Romane "Die Süße des Lebens" (2006) und "Das Matratzenhaus" (2010) als "Kriminalromane" rubriziert, als wäre das abqualifizierend. Die Sorge muss er nicht haben, denn der 1961 in Amstetten geborene Autor legt mit "Fliege fort, fliege fort", seinem dritten Furth-Roman, dank eines hohen sprachlichen Verdichtungsgrades einen untadeligen literarischen Kriminalroman vor.
Gleich zwei Ermittler wohnen in Hochgatterers Erzählerbrust, beide Endfünfziger, beide Melancholiker. Kommissar Ludwig Kovacs wird von einem unregelmäßig schlagenden Herzen geplagt, aber immerhin macht sich seine Tochter Sorgen um ihn. Der Psychiater des Krankenhauses, Raffael Horn, tut sich schwer mit dem dritten Lebensabschnitt. Sein Sohn, ein Stubenhocker zwischen krimineller und künstlerischer Energie, wird zum Testfall des väterlichen Nervenkostüms.
Man kann nicht behaupten, Kovacs und Horn ermittelten stringent, lange Zeit ist auch unklar, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen den menschlichen Schadensfällen gibt. Hochgatterer fährt reichlich Personal auf, das jeweils aus seiner Perspektive zum Gesamtbild beiträgt. Über die Ermittler wird in der Vergangenheit berichtet, nur der Entführer hat eine präsentische Ich-Stimme. Diese berichtet dem Opfer, wie es ihm selbst ergangen ist, als Schützling des örtlichen Kinderheims. "Die Burg" dient heute als Auffanglager für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die von schwarzgewandeten Glatzköpfen der "Aktion 18" bewacht werden, "1" steht für "A", "8" für "H" - also Adolf Hitler. Dann gibt es noch Leftis Kneipe, ein städtisches Jugendzentrum, in dem pubertäre Seelen nach dem Sinn des Lebens sucht, einen Pater, der eine Lehrerin beglückt, Horns Cello spielende Gattin, Sozialarbeiter, diverse Ermittler und einen nervösen Polizeichef.
Der Romantitel ist "Faust" entliehen, Gretchen spricht "inwendig" in der Kerkerszene: "Meine Mutter, die Hur / Die mich umgebracht hat! / Mein Vater, der Schelm / Der mich gessen hat! / Mein Schwesterlein klein / Hub auf die Bein / An einem kühlen Ort; / Da ward ich ein schönes Waldvögelein; / Fliege fort, fliege fort!" Der Generalbass ist intoniert, es geht um die Spätfolgen von Missbrauch und Demütigungstechniken, die seinerzeit in der "Burg" unter den verschleiernden Begriffen "Decke", "Glatze", "Siegelring" und "Einzug nach Jerusalem" praktiziert wurden.
Und nun - ein sehr verspäteter Rachefeldzug? Kunstvoll legt Hochgatterer die Karten auf den Tisch. Seinfein gearbeiteter Text zeigt die Täter von einst und was aus ihren Opfern wurde. Er handelt von Verhaltensmustern und deren Wiederholung, von einer Gegenwart in den Fängen einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Und er macht deutlich, warum die soziale Kontrolle in einer Kleinstadt besser blüht als sonstwo.
HANNES HINTERMEIER
Paulus Hochgatterer:
"Fliege fort, fliege fort".
Roman.
Deuticke Verlag,
Wien 2019.
286 S., geb., 23,- [Euro].
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