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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von der Gemütslage zu politischen Ressourcen ist es oft nur ein kleiner Schritt: Valentin Groebner inspiziert Gefühle, die gleichermaßen reizvoll und frustrierend sind
Die Emotionen, die in Valentin Groebners "Gefühlskino" die Hauptrolle spielen, fallen allesamt unter die Kategorie der "unsatisfying pleasures": gemischte Gefühle, die unwiderstehlich sind, aber zugleich unzufrieden machen. Insbesondere die Nostalgie zeichnet sich für den in Luzern lehrenden Mediävisten durch diese Widersprüchlichkeit aus. Deshalb sei die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der warme Erinnerung und schmerzliche Verlusterfahrung aufeinandertreffen, auch so ansteckend und jederzeit kollektiv abrufbar.
Auf ähnliche Weise würden auch Opferstolz, moralische Reinheitsbestrebungen und Weltuntergangsstimmung funktionieren - lauter affektive Regime, die sich aufgrund ihrer Ambivalenz selbst vervielfältigen und verstärken. Der Frage, wie es konkret aussieht, wenn diese paradoxen Gemütslagen zu psychosozialen Leitprinzipien und politischen Ressourcen werden, welche Gefahren und Scheinheiligkeiten damit einhergehen, möchte Groebner in seinem Langessay genauer nachgehen.
Das Vorhaben ist überaus lesenswert umgesetzt, wenn der Autor seine eigene Vergangenheit in den denkbar unnostalgischen Blick nimmt. Groebner, 1962 in Wien geboren, studierte in den Achtzigerjahren in Deutschland, wo er sich der militanten Linken anschloss. Er ließ kaum eine Demo aus, warf mit Steinen auf Dinge, die in seinen Augen für Atomkraft, Kapitalismus, Kernfamilie, NATO oder für Nazis standen, flüchtete vor Wasserwerfern und Polizeiknüppeln. In dieser uneitlen, selbstironischen Rückschau erscheint die lose organisierte autonome Szene als "Verschmelzung von männerbündnerischer Gewalt und lustvoller Tanzparty".
Einerseits prägten Hypermoralismus und homosoziale Selbstbestätigungsrituale die Atmosphäre. Zugleich herrschten nihilistisch angehauchter Hedonismus, mediale Inszenierungslust und ein radikaler Kult der gefühligen Subjektivität, der in den K-Gruppen der Siebzigerjahre noch undenkbar gewesen wäre. Bezeichnend auch, dass es sich bei den Mitgliedern der autonomen Gruppen mehrheitlich um behütet aufgewachsene Bürgerkinder handelte, die sich umstandslos mit den Verdammten dieser Erde identifizierten und offensiv revolutionsromantisch Vorbilder aus vergangenen Zeiten beschworen. Wahlweise sah man sich als Sprachrohr der Sozialhilfeempfänger oder als Wiedergeburt von Résistancekämpfern, Operationisten, Situationisten oder Bauernkriegern aus dem sechzehnten Jahrhundert.
Der angenehm abgeklärte Tonfall dieser Schilderung schlängelt sich durch die übrigen der sieben zwanglos miteinander verknüpften Kapitel. Wie häufig in seinen Büchern verbindet Groebner auch diesmal Gegenwartsbeobachtung, autobiographisches Anschauungsmaterial und kulturgeschichtliche Exkurse. So erfährt man, wie Groebner 2021 in der Schweiz unerwartet an einer Querdenker-Demonstration gegen staatliche Corona-Maßnahmen vorbeiläuft und bei den Teilnehmern ebenjene schwarzen Sturmhauben und Slogans wiederentdeckt, mit denen er selbst einst auf der Straße protestierte. Es geht ferner um spätmittelalterliche Bettelordensprediger und um deren rhetorische Strategien, die in der säkularen Gegenwart nachwirken. Einen Kurzauftritt hat auch Joseph Brodsky, der sich trotz Gulag und Zwangsexil ausdrücklich nicht mit dem Opferstatus arrangieren wollte.
Passagenweise liest man das gerne, doch nennenswerte essayistische Spannung oder gedankliche Prägnanz will außerhalb des Kapitels, in dem Groebner am Beispiel seiner linksradikalen Spätjugend die Dynamik und die politische Verwertbarkeit von Affekten anschaulich gemacht hat, partout nicht mehr aufkommen. Das liegt zum einen an dem rhetorischen Füllstoff, der äußerst freigiebig über die Seiten verteilt wird. Es wimmelt nur so von forcierten Metaphern, wolkigen Assoziationen, kreativen Bandwurmwörtern und leidlich aussagekräftigen, lustlos aufgeblähten Alltagsanekdoten.
Wenig ergiebig sind auch die mäandernden, unspezifischen Reflexionen zu den Grenzen der Erregungsgemeinschaft. Dabei blitzen durchaus interessante Gedanken auf, etwa zur Lust an der Schuld (der eigenen und der anderer), zu negativem Auserwähltheitsbewusstsein oder zu unerfüllbaren moralischen Maximalforderungen. Nur werden diese Gedanken wieder und wieder neu und noch einen Tick raffinierter oder bildhafter formuliert, bis sie schließlich völlig verbraucht wirken. Spätestens ab der Hälfte liest sich der schmale Band wie eine verdruckste Abrechnung mit der Identitätspolitik. Wobei der Begriff von Groebner kein einziges Mal genannt wird. Allerdings wird im Schlusskapitel kurz und ein wenig pflichtschuldig das einseitige Geschichtsbild vonseiten des "queeren und antikolonialen Widerstands" bemängelt. "Weiße Mehrheitsmänner", die ihren Privilegien nachjammern, mag Groebner deswegen natürlich noch lange nicht.
Wenn sich dann auf der letzten Seite ein Fahrradausflug in den elsässischen Ort Obermodern, ein Kalauer zur immer später werdenden Spätmoderne und "zwei Gläser kalter Weißwein" zum launigen, längst überfälligen Schlussidyll fügen, beschleichen einen unweigerlich nostalgische Gefühle. Denn früher, es ist noch gar nicht lange her, da hat Groebner mal richtig gute Bücher geschrieben. MARIANNA LIEDER
Valentin Groebner: "Gefühlskino". Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 192 S., Abb., geb., 24,- Euro.
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