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Informationsgebirge mit Leerstellen - die Inlandsspionage des BND in der Ära Adenauer
Was für ein fulminanter Aufschlag des Historikers a. D. Klaus-Dietmar Henke. Er hat nochmals zugelangt, bevor es für ihn "vorbei" ist mit Geschichte. Auch sein Alterswerk ist wie stets bei ihm eloquent und spannend erzählte Geschichte. Die bringt es nun, zusammen mit dem ersten Band, auf bald 2300 Seiten. Unfassbar in zweierlei Hinsicht: Zum einen will er - dem Titel nach - zeitlich allein den Bundesnachrichtendienst (BND), vormals Organisation Gehlen, während der Ära des Bundeskanzlers Konrad Adenauer (1949-1963) analysieren. Zum anderen wäre doch beim BND "Auslandsspionage" statt "Inlandsspionage" zu vermuten. Das analoge Gegenstück zur "Auslandsaufklärung" kommt dagegen mit rund 1000 Seiten aus. Das verwundert nach Henke nicht, da die Auslandsspionage des BND "hinter seinem innenpolitischen Engagement zurückblieb". Wirkt beinahe so, als hätte es da einst eine Schieflage gegeben.
Tatsächlich ist das nicht der Fall. Das Informationsnetz von Auslandsnachrichtendiensten wird ganz überwiegend im eigenen Land rekrutiert, da es risikoärmer, arbeitsökonomischer und preiswerter, aber auch aufseiten kultureller und sprachlicher Probleme oftmals attraktiver ist. Für die Ära Adenauer gilt dabei, insbesondere wegen der deutsch-deutschen Konstellation zweifellos, den wichtigsten Transmissionsriemen des sowjetischen Kommunismus, namentlich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), deren Vorfeldorganisationen sowie alle in diesem Sinne als politisch verdächtigen Kombattanten im nachrichtendienstlichen Auge zu behalten. So gesehen, bot die fragile Demokratie der Bundesrepublik allen Grund, nachrichtendienstlich diesen Goldstaub mitzunehmen.
Die politische Grundierung des BND trug noch eine intensive braune Eintrübung, insbesondere, was das Feindbild betrifft, das Henke präzise herausarbeitet. Mithin galt alles als "Feind", was nicht christlich-deutsch-national temperiert war, beginnend mit der SPD im Allgemeinen und dort mit bestimmten marxistischen Strömungen im Besonderen. Das seinerzeitige Bild von BND und CDU-Spitze war, dass die Bundesrepublik unter einer von der SPD geführten Regierung "in kurzer Zeit ein sowjetrussischer Satellitenstaat" werden würde.
Die "Inlandsspionage" des BND, eine irreführende Bezeichnung, endet nach Henke im Jahre 1961, mithin noch in der Ära Adenauer. Sein Werk jedoch geht inhaltlich ein halbes Tausend Seiten über dieses Zeitfenster hinaus, reicht bis ins Jahr 1998, als er den "Niedergang in den Kohl-Jahren" beschreibt. Durchaus erhellend, sprengt das aber das im Titel gegebene Versprechen, aber auch die Thematik, da es sich dann nicht weiter um "Inlandsspionage" handelt, zumindest nicht des BND.
Henke schießt mithin weit übers Ziel hinaus, auch als er anschaulich zitiert: "Für die Frau Gemahlin gab es eine kleine Aufmerksamkeit. Baumann: 'Jesses . . .' Er öffnete das Päckchen mit besonderer Sorgfalt, 'sonst schimpft meine Frau. Die knüpft ja jeden Strick auf. Nix mit Messer und Schere.' MfS: 'Ja, ich mach das auch mitunter gerne. Aber das macht ja jeder anders. Manche sind auch sehr ungeduldig. Die reißen das auf mit Messer und Schere.'" Der wissenschaftliche Wert dieses Wissens zum Thema "Inlandsspionage" in der Ära Adenauer erschließt sich nicht.
Was den Blütenstaub an Henkes großem Wurf nahezu wegbläst, ist der sorglose Umgang mit der für wissenschaftliches Arbeiten erforderlichen Präzision, gerade, was Eigenbegrifflichkeiten bei Nachrichtendiensten oder Sachverhalte selbst betrifft. Sie haben in diesem Mikrokosmus immense Bedeutung. Exemplarisch das: Es geht um einen Geheimen Mitarbeiter (GM) "Brille" der DDR-Staatssicherheit, dessen Informationen im Westen einen Mitarbeiter der Organisation Gehlen derart kompromittieren, dass dieser Selbstmord begeht, wie Henke hervorragend herausarbeitet. Der Mann wurde allein deshalb so belastet, um eine überaus wertvolle sowjetische Quelle im BND, Heinz Felfe, vor Verdächtigungen zu schützen. Nur Henke bezeichnet "Brille" zuweilen als "gesellschaftlichen Mitarbeiter", dann als "Geheimen Informator", statt richtigerweise als GM. Es ist beinahe so, als würde begrifflich beliebig Bundeskanzler mit Bürgermeister verwechselt. Das gilt an anderer Stelle für Instrukteur und Führungsoffizier. Mal schreibt Henke von einer nie existiert habenden Hauptverwaltung Aufklärung, dann wiederum richtig von Hauptverwaltung A (HV A). Mitunter werden von ihm Quellen des BND unglückseligerweise als "inoffizielle Mitarbeiter" - ein Terminus des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) - bezeichnet. Mögen dies noch Petitessen sein, stören doch deren Anzahl empfindlich den Lesefluss und das Vertrauen in die Validität intellektuell gebotener Aktendurchdringung. Das meint nicht allein schlichte Fehler, wie das Zuordnen der Schule des BND im Schloss Weidenkam an den Tegernsee, wie Henke schreibt, wo das Schloss doch damals wie heute am Starnberger See liegt.
Das betrifft vielmehr auch konkrete Sachverhalte, die andernorts als bei Henke präziser nachlesbar sind. So führte der amerikanische Nachrichtendienst CIA innerhalb der ostdeutschen Auslandsspionage in den Jahren 1952/53 eine Quelle, einen Abteilungsleiter beim Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF), bis zu diesem Zeitpunkt lediglich eine Filiale des KGB, die mit deutschen Offizieren ausgestattet war. Bei Henke wird der Mann fälschlicherweise zum Abteilungsleiter des MfS, dem er zeitlebens nie angehört hat.
Nach der Ausschleusung dieser Quelle aus der DDR lösten seine Informationen, so Henke, "40 Haftbefehle" aus, wobei durch die Bundesanwaltschaft die "Hälfte ihrer Ermittlungen" eingestellt worden sei und lediglich "ein einziger Delinquent" übrig geblieben sei. Ein Blick in die Kabinettsprotokolle, die Henke an anderer Stelle heranzieht, hätte genügt, um zu erfahren: Es sind bei dieser Aktion "Vulkan" 35 öffentlich namentlich genannte Personen inhaftiert worden, von denen fünf Personen verurteilt wurden, hinzu kamen jeweils eine Anklage und eine Flucht sowie 28 Verfahrenseinstellungen. Darüber hinaus wurden die Namen von 17 weiteren Personen von der Bundesregierung eben nicht publik gemacht, bei denen acht Verfahren eingestellt wurden, weitere acht Personen flüchtig waren und ein Verfahren zur Anklage gekommen ist. Solche Ungenauigkeiten Henkes berühren fundamental seine an sich wiederholt präzisen Beschreibungen. Sie greifen die Belastbarkeit seiner sonstigen Feststellungen an.
Klaus-Dietmar Henke blendet ausgerechnet die Infiltrierung der KPD durch den BND aus, was als kapitaler konzeptioneller Fehler anzusehen ist. Gerade CIA und BND haben auf diese Weise sehr erfolgreich Operationen gegen die DDR geführt und beispielsweise 1952 den ostdeutschen Auslandsnachrichtendienst lahmgelegt und seiner besten Quellen beraubt. Das Instrument, die Verbindungen des Ostens in den Westen als Hebel der Spionageabwehr des BND zu nutzen, um nachrichtendienstliche Strukturen der DDR zu behindern, zu kontrollieren, erscheint nachvollziehbar. Es handelt sich dabei eben nicht, wie Henke spekuliert, allein um ein Deckmäntelchen, um Konrad Adenauer den Spaß zu erlauben, den innenpolitischen Gegner zu unterlaufen, also aus dem BND ein unsichtbares Wahlkampfteam des Kanzlers zu machen. Mithin hat wesentlich die Kenntnislage des BND zum KPD-Verbot beigetragen. Henkes Argument, dass "echte kommunistische Staatsfeinde mit der Lupe" zu suchen gewesen seien, dürfte für die 1950er-Jahre etwas kühn sein.
Die höchst lesenswerte Arbeit von Klaus-Dietmar Henke, die in einem auf wenige Hundert Seiten gestrafften Sachbuch sicherlich ein breiteres Publikum haben würde, belegt, wie wertvoll nachrichtendienstliches Material für die klassische Geschichtsschreibung ist. HELMUT MÜLLER-ENBERGS
Klaus-Dietmar Henke: Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage des BND in der Ära Adenauer. Zwei Bände.
Ch. Links Verlag, Berlin 2022. 1461 S., 98,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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