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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Schlagende Hand, schreibende Hand: Im Roman "Heimwärts" erinnert sich Michael Lentz an seine Familie und das Elternhaus.
Von Katharina Teutsch
Mutter, Vater, Schrift: Kurz, aber profund ist das Glossar des Romanciers Michael Lentz. 1964 wurde er im nordrhein-westfälischen Düren geboren als Sohn des dortigen Oberstadtdirektors, dessen Patriarchensterben Lentz vor sechs Jahren unter dem Titel "Schattenfroh" zu einem mehr als tausend Seiten umfassenden Requiem inspiriert hatte. Dem Vatersterben war 2001 das "Muttersterben" vorausgegangen - zum Vaterbuch ein schmaler Gegenentwurf, der Lentz den literarischen Durchbruch brachte.
Nun geht der Neunundfünfzigjährige in Mittelstreckenromanlänge "Heimwärts". So heißt das Familienbuch, in dem Lentz den Abstand zwischen Vater, Mutter und Sohn noch einmal vermisst. Denkt man an die Werke von Kollegen wie Wolf Haas ("Eigentum", 2023), Frank Witzel ("Inniger Schiffbruch", 2021), David Wagner ("Der vergessliche Riese", 2019) oder Arno Geiger ("Der alte König in seinem Exil", 2011), verbindet ihn das mit vielen männlichen Autoren seiner Generation. Auch Lentz unternimmt den Versuch einer sich selbst verortenden Männlichkeit angesichts patriarchalisch einschüchternder Vaterfiguren und enigmatisch einsamer, kontrollierender Mütter. Die lentzsche "verkörperte die von Generation zu Generation weitergereichte psychische Stillstellung von Frauen, deren von den Eltern gegängelter Lebenslauf leerlief und in eine Ehe mündete, die den Stillstand zur repräsentativen Lebensform festschrieb". Das habe sie, so der Erzähler, den Kindern zum Vorwurf gemacht.
Beide elterlichen Temperamente waren zwanghaft und hatten eine "Familienpolitik der Unmündigkeit" ergeben, die Unfreiheit als Grundgefühl auslöste. Zwischen Reihenhäusern, Tante-Emma-Läden, Wäscherei, Amtsgericht und Turnhalle befand sich das Elternhaus als "eine Mischung aus Gefängnis, Irrenanstalt und Paradies". Geblieben sind Erinnerungen an dieses Haus von innen, geblieben sind Gefühle, Projektionen, Heimlichkeiten, die sich wie unsichtbare Leitmotive durch den Text ziehen.
Ein herzkranker Bruder taucht auf im schon bekannten Familienbild und Großeltern, die man teils nur vom Hörensagen kannte. Hinzugekommen ist neben der Stimme des sich erinnernden Ich-Erzählers die Stimme eines Kindes. Dieses Kind sagt nicht "Mutter" oder "Vater", sondern "Papa" und "Mama". Es geht nicht in den "Kindergarten", sondern in die "Kita" und markiert so die Gegenwart. So sind es also zwei Ich-Erzähler, die in "Heimwärts" übereinandergeblendet werden. Redet das Kind des älteren Kindes, so lässt es ein anderes Bild des Vaters entstehen als dieser selbst.
Dieser muss ein zorniges Kind gewesen sein, ein Kind, das den eigenen Insektenzoo in einer wilden Raserei in ein Massengrab verwandeln konnte. Und "Spielzeug war dazu da, zerstört zu werden" - einfach so. Weil es guttat oder interessant war und weil man der Wut vielleicht nicht anders gewachsen war - so wie auch dem Vater die Hand ausrutschte, weil er einer urwüchsigen Wut nicht gewachsen war. Geredet wurde nicht. Wenn das junge Kind seinem Papa komplizierte Fragen über den Tod und das Nichts stellt, erinnert sich das alte Kind, dass solch infames Gefrage in der eigenen Kindheit zur erhobenen Hand des "Impulsprüglers" geführt hätte.
Das cholerische Temperament ist aber ein auf vielfältige Weise vererbliches Ding, und so berichtet auch das Kind des Kindes von einem jähzornigen Papa, der schon mal vor Wut auf das eigene Kind Apfelsaftflaschen auf den Küchenboden schmeißt. Impulse spielen eine große Rolle auch im Leben des alten Kindes. "Meine Mutter war eine liebende Frau", heißt es einmal im Text. "Ich habe sie nie verstanden. Ich verstand nicht, was sie sagte, ich verstand nicht, was sie wollte. Meinen Vater habe ich verstanden."
Sich selbst dabei zu verstehen ist dem Erzähler gerade in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Kind das Allerschwerste. Denn nichts ist zählebiger als ambivalente Gefühle. "Niemand erkennt sich selbst" war die Losung, die Lentz im Vaterroman durch seinen Erzähler "Niemand" ausgegeben hatte. Die Schrift war bei diesem Unterfangen die heimliche Hauptfigur gewesen. Sie kam im Roman in allen erdenklichen Formen vor: als Handschrift, als verblassende Typographie, als Geheimzeichen, als Nichtschrift (in Form von weißen oder schwarzen Seiten), als Schriften, die im Buch übereinander gedruckt und damit unleserlich gemacht waren. Und nicht zu vergessen als Heilige Schrift, die dem erzkatholischen Vater als Urschrift gilt.
Schon hier hatte die Literatur die Oberhand über das Leben gewonnen. Jetzt kommt Lentz auf seinen dritten Fixstern poetischer Reflexion zurück. Des Vaters "schlagende Hand", heißt es in "Heimwärts", ist auch eine mit Begeisterung "schreibende Hand". Und sie schreibt immer zugleich sich selbst: "Neben der Mutterschrift gab es die Vaterschrift. Ging die Mutterschrift leichtfüßig über das Papier, war grazil und schmal in der Führung und neigte nach rechts, so war Vaters Schrift eine Triumphschrift, die breiten Fußes das Feld bestellte und sich doch immer behaupten musste, denn stets schien ihr ein starker Sturm entgegenzublasen, sie kippte nach links, fiel aber nicht um, als lehnte sie sich an die Vergangenheit und wollte das Kommode, das ihr vor die Füße fiel, die jedesmalige Gegenwart, wie ein Hobel spanend abrichten. Ich brauche dich, ich sehe dich nicht, schien die Vaterschrift mit jedem Hobelschritt zu sagen."
Gezähmter als in "Schattenfroh" erzählt Michael Lentz sein Leben als eine Abfolge von Wiederholung und Varianz. "Wo gehen wir denn hin?", heißt es bei Novalis. "Immer nachhause" - natürlich. Das behaupten auch alle lentzschen Texte mit universalpoetischem Eifer.
Michael Lentz: "Heimwärts". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 304 S., geb., 24,- Euro.
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