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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Gerhard Wolf sammelt in seinem Band "Herzenssache" Reden und Aufsätze der letzten zwanzig Jahre
"Man weiß eigentlich das, was man weiß, nur für sich selbst", zitiert ein in Moll gestimmter Gerhard Wolf im Spätsommer 1993 aus Goethes "Maximen". Anlass ist seine Rede zur Buchpremiere von Günter de Bruyns "Mein Brandenburg". Eigentlich erwartet man eine heitere Lobrede zu Wein und Häppchen, schließlich waren die beiden lange befreundet: Gemeinsam gaben sie den "Märkischen Dichtergarten" heraus, stolze sechzehn Bände in zehn Jahren, das schweißt zusammen. Mit dem von de Bruyn vorbehaltlos begrüßten Mauerfall trübt sich das Verhältnis ein: Da sitzen zwei zwischen den Stühlen und sind, da es sich nicht um die gleichen handelt, verstummt. Wolf benennt die gegenseitigen Vorbehalte, lädt zur Wiederaufnahme des Dialogs ein, skizziert die aufgeregten Zeiten nach dem deutsch-deutschen Literaturstreit - und flicht dem Kollegen obendrein einen wunderbaren Kranz: Chapeau, oder in seinen auf de Bruyn gemünzten Worten: "Das soll ihm erst mal einer nachmachen."
Der Text ist ein Glanzlicht in dem Band, in dem Wolf - nach seinen 2018 erschienenen Essays zur Lyrik ("Im deutschen Dichtergarten") und dem Briefwechsel mit Carlfriedrich Claus ("Nun schauen mich immer mindestens vier Augen an") - Reden und Aufsätze der letzten zwanzig Jahre versammelt. "Herzenssache", der Titel, lässt die Temperatur der Geburtstagsgrüße und Nachrufe, Vor- und Nachworte, der Vernissagen-Texte und Laudationes ahnen. Zugleich klingt da ein Wort, das heute wie aus der Zeit gefallen wirkt und eher an Hölderlin, Kleist, die Günderrode, Bettine oder Arnim erinnert - all jene, die beide Wolfs in den bleiernen letzten Jahren der DDR in Prosa und Essay umkreisten. Mehr als sechzig Jahre war Wolf der Mann an der Seite seiner 2011 verstorbenen Frau Christa, ihr erster Leser und vertrauter Gesprächspartner - kein Wunder also, wenn das Pronomen "wir" sich durch viele Texte des neuen Bandes zieht, die Porträts der Freunde Volker Braun oder Stephan Hermlin sogar als Dialoge angelegt sind.
Eine Welt von gestern wird besichtigt, deren Bewohner an das Gute, Schöne und Wahre glauben und an eine reformierbare DDR: Walter Jens, Carola Stern und Günter Grass ebenso wie Stefan Heym und Brigitte Reimann. Zugleich zeichnen die auf sympathische Weise unprätentiösen Künstler- und Autorenporträts auch das Bild des Schriftstellers, Lektors, Verlegers und Ermöglichers Gerhard Wolf, der stets von den Unangepassten, Experimentierfreudigen fasziniert ist. Diese Republik freier Geister reicht von der feministischen Poetessa Irmtraud Morgner, deren Grabrede Wolf neben Alice Schwarzer hält, über unbotmäßige Autoren wie Andreas Reimann, Gino Hahnemann oder Bert Papenfuß bis zu von den SED-Oberen ins Abseits geschobenen Künstlern wie Gerhard Altenbourg oder Carlfriedrich Claus. In den Achtzigern unterstützen die Wolfs die Avantgardeszene, die ihre Künstlerbücher und Grafikmappen im Samisdat vertreibt. Als die seit 1988 von Gerhard Wolf im Aufbau Verlag betreute Reihe "Außer der Reihe" nach elf Titeln mit jungen Underground-Dichtern 1991 eingestellt wird, macht der nimmermüde Wolf einfach weiter - und gründet den eigenen Verlag Janus press.
Leichtfüßig und klug geht Wolf seine Porträts an; wenn er behauptet, "mehr spontan als systematisch" vorzugehen, oder "bruchstückhaft, den ersten Assoziationen folgend", stapelt er bewusst tief. Wie es ihm auf diese Weise gelingt, scheinbar in Stein gemeißelte Wahrheiten in neues Licht zu rücken oder uns zumindest nachdenklich zu machen, zeigt sein Essay über Louis Fürnberg, heute vor allem als Schöpfer einer SED-Lobeshymne ("Die Partei, die Partei, die hat immer recht") in unguter Erinnerung. Wolf, der 1956 seine Examensarbeit über Fürnberg schrieb, skizziert auf wenigen Seiten ein von tragischen Konflikten und unerfüllbaren Hoffnungen gezeichnetes - dabei viel zu kurzes - Leben: Der deutschböhmische Jude, Schöngeist und Kommunist starb 1957, drei Jahre nach seiner Übersiedlung in die DDR, mit nur 48 Jahren, an einem Herzinfarkt.
Eine Reise des jungen Gerhard Wolf auf den Spuren Fürnbergs nach Prag wird 1958 zum Initial einer "Lebensfreundschaft", die das Dasein der gesamten Familie über Jahrzehnte mitbestimmt. Das "Memorial für Franci Faktorová", der erst 2020 verfasste, persönlichste Text des Bandes, ist für Wolf "wie ein Stein, den man auf das Grabmal eines jüdischen Freundes legt". Die alten Schwarz-Weiß-Fotos aus der Berliner Friedrichstraße und der Sommerfrische in den Beskiden zeigen eine bis ins Alter schöne Frau, die zur Familie gehört; 1977 heiraten Annette Simon, Tochter der Wolfs, und Francis Sohn Jan Faktor. Die Geschichte der Faktorová (1926 bis 1997), die das KZ Theresienstadt überlebte, 1968 als Mitarbeiterin der Zeitschrift Literarny noviny das "Manifest der 2000" mitverfasste und später Christa Wolfs Roman "Kindheitsmuster" unter konspirativen Umständen ins Tschechische übersetzte, liest sich wie ein Roman.
Tatsächlich plante Christa Wolf, auf Grundlage von Gesprächen, Tagebuchaufzeichnungen und Briefauszügen über die Freundin zu schreiben. Das Projekt, auf das sich Gerhard Wolfs Text stützt, blieb Fragment. "So redete man bei uns Anfang der Sechziger", vertraut Francis tschechischer Lebensgefährte Jarda im August 1976 im Neu Metelner Sommerhaus der Wolfs seinem Tagebuch an, "da sind sie weit hinter uns . . ." Kurz darauf, im Herbst 1976, beginnt mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann der Anfang vom Ende der DDR.
NILS KAHLEFENDT
Gerhard Wolf: "Herzenssache". Memorial - unvergessliche Begegnungen.
Aufbau Verlag, Berlin 2020. 288 S., geb., 22,- [Euro].
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