BILD habe ich erst verstanden, nachdem ich die Biografie von Axel Springer und Friede Springer gelesen habe. Diese Art von Journalismus gefällt wenigen, und doch lesen sie so viele. Ganze Zeitungen gründeten ihr Dasein auf Unglücken! Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Warum lache ich
bei den Filmen, wenn anderen etwas Dummes passiert? Warum interessieren sich Menschen für Menschen,…mehrBILD habe ich erst verstanden, nachdem ich die Biografie von Axel Springer und Friede Springer gelesen habe. Diese Art von Journalismus gefällt wenigen, und doch lesen sie so viele. Ganze Zeitungen gründeten ihr Dasein auf Unglücken! Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Warum lache ich bei den Filmen, wenn anderen etwas Dummes passiert? Warum interessieren sich Menschen für Menschen, und vor allem für ihr Unglück? Journalismus ist die Umsetzung funktionierender Mechanismen des schadenfrohen Interesses für andere. Wie entstand das Lachen? Von 10 Menschen am Ufer ergriff der Bär einen und tötete ihn. Neun rannten davon und lachten wie irre!
Und genau so funktioniert der Boulevard-Journalismus. Lachen über andere tut gut, Unglücke angstlustig und mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen lässt einen beschützt im eigenen Umfeld zurück: Gott sei Dank, so schlecht geht es uns / mir nicht. Man kann darüber lamentieren oder zur Kenntnis nehmen, dass man selbst nicht frei von solchen Mechanismen ist. Über andere(s) zu berichten wurde zu einer machtvollen Industrie, die heute mitbestimmt, wohin Politikerkarrieren gehen. Kai Diekmann erzählt zu Beginn dieses sehr lesenswerten Buches über den tiefen Fall des Herrn Wulff, Bundespräsident a.D., dessen Anruf beim damaligen Chefredakteur bzw. die Nachricht auf der Sprachbox der Beginn seines Endes wurde.
Das Buch verdeutlicht, wie eng Journalisten und Politiker verwoben sind. Der Bundespräsident besucht wie selbstverständlich den Chefredakteur und plaudert mit ihm, auch die Gattinnen sind dabei. Man hofft auf den Goodwill des jeweils anderen. Der eine will Geschichten, der andere gute Presse, eigentlich ein perfektes Win-Win-Geschäft. Wären da nicht, wie immer im Leben, die persönlichen Vorlieben und Animositäten. Wir erleben, wie Wulff und seine damalige neue Partnerin durch BILD verständnisvoll begleitet werden, ja richtiggehend abgefedert wolkensanft gebettet. Und wir erkennen die Veränderung, die ein Mensch erleben muss, wenn er ganz oben angekommen ist. Bei Wulff scheint eine Einstellung gewachsen zu sein, die ihm ein Motto unterschiebt, das wir vom royalen Mittelalter kennen: L'etat, c'est moi!
Die idyllische Atmosphäre in Hannover, wo sich alle kannten und Wulff wohl mit allen Journalisten bestens zurecht kam, war aber nicht auf Berlin übertragbar. Für einen Bundespräsidenten gelten andere moralische Gesetze. Wir erleben mit, wie Wulff Diekmann befragt, ob er den Satz vom Islam, der zu Deutschland gehöre, in seiner Rede unterbringen soll. Sogar Wulff's Frau, aber vor allem Diekmann raten ab. Geht Politik und Journalismus noch enger? Das fällt mir beim Lesen dieser Passagen ein. Müssten wir nicht dringend eine strikte Trennung zwischen Politik und Journalismus anstreben? Wie kann es sein, dass ganze Zeitungen zu einer Partei gehören? Welche Rolle spielen in einem über-versorgenden Staat die öffentlich rechtlichen Sender, deren Mitglieder zu fast 90% einer politischen Richtung angehören?
Journalisten und Politiker wechseln häufig zwischen ihren Bereichen hin und her. Dieses Geflecht nimmt immer problematischere Züge an und müsste dringend reformiert werden. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen zu den sozialen Medien abwandern und lieber selber etwas beitragen. Klassische Journalisten unterschätzen den Leser-Kommentar immer noch, der ihren Berufsstand dramatisch unter Beschuss setzt. Ich lese oft nur noch Kommentare von Lesern, der eigentliche Artikel ist lediglich der Start zu einer Diskussion.
Kai Diekmann hat die wesentliche Bedingung für ein gutes Buch (nach Reich-Ranicki) erfüllt, er kann wirklich unterhaltsam erzählen. Ich habe die 544 Seiten in 2 Tagen gelesen und viel Neues erfahren. Es sind durchaus selbstkritische Einsichten eines Insiders dabei, die in weiten Teilen zudem wirklich überraschend sind. Die Sache mit Wallraff (Abhöraffäre) war mir nicht bewusst, ebenso wenig die Frontgestaltung der TAZ in der Rudi-Dutschke-Straße.
Bei Helmut Kohl hat sich für mich ein Puzzle geschlossen, nachdem ich schon die Bücher seiner Söhne gelesen hatte, und natürlich die Kohl-Biografien. Ich freue mich im Nachhinein, dass Helmut Kohl trotz allem Unglück in der neuen Partnerschaft großes Glück und Zuneigung gefunden hat. Dass Kai Diekmann auch in schweren linken Gewässern konservativ blieb, wider alle Zeitgeistanfeindungen, zeugt von echten Nehmerqualitäten. Dabei bot er sich der Gegenseite immer als Mittler an und versuchte, mit allen zu reden, egal ob links oder rechts, auf kreative, intelligente Weise.
Dass er am Ende des Buches den Vergleich 6 und 9 brachte, den auch die aktuelle Außenministerin im Repertoire hat, schmälerte dieses echte Stück Zeit-Geschichte(n) nur minimal. Besonders lesenswert seine Briefe an bekannte und unbekannte Personen, die im Anhang eingefügt sind. Dass er mit Scharping Freundschaft schloss, eine echte Überraschung. Wobei man Scharping für seine Gemütsruhe bei allen Turbulenzen um ihn tatsächlich aufrichtig bewundern muss.