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Menachem Kaiser begibt sich auf eine erzählerisch starke Reise zu den alten Besitztümern seiner Familie
Menachem Kaiser bietet gleich zwei Optionen für den Anfang seiner Geschichte an. Nüchtern und sachlich betrachtet, möchte er den Restitutionsprozess weiterführen, den sein Großvater begonnen hat, aber nicht erfolgreich zu Ende führen konnte. Dabei geht es um ein Mietshaus im polnischen Teil Schlesiens, in Sosnowiec; Kaisers Opa hat eine Kopie des Hypothekenregisters von 1936, die ihn als Besitzer ausweist. Dieses Gebäude wurde von den Nationalsozialisten enteignet, der Großvater deportiert, doch er schaffte es, den Krieg zu überleben und floh über New York nach Toronto. So betrachtet ist es ein simpler Akt, ein später Versuch, wenigstens das bisschen mögliche Gerechtigkeit wiederherzustellen. Kaiser startet also das rechtliche Verfahren der Rückforderung des Gebäudes in Sosnowiec.
Dass Tausende Juden in die Städte ihrer Familienherkunft reisen, um Restitutionsprozesse in Gang zu setzen oder "eine Art Erinnerungs-Safari" zu betreiben, führt dazu, dass Kaisers Geschichte in dieser Hinsicht nicht außergewöhnlich ist. Das fasst der Autor selbst gekonnt in Worte. "Hier zeigt sich eine große, vibrierende Dissonanz: Einerseits hat dein Großvater jeden Einzelnen seiner Familienmitglieder verloren; andererseits ist seine Geschichte nichts Besonderes, beinahe klischeehaft."
Und doch sind Kaisers Aufzeichnungen zu seinem Familienerbe und dessen Restitution, die unter dem Titel "Kajzer" jetzt im Paul Zsolnay Verlag erschienen sind, durchaus besonders. Denn der Autor bietet von Beginn an auch eine zweite Möglichkeit, wie seine Geschichte einzuordnen ist, indem er die persönlich-emotionale Bedeutung des verlorenen Erbes schildert. Kaiser hat seinen Großvater, der vor seiner Geburt verstorben ist, nie kennengelernt und hofft, sich ihm durch den Prozess der Rückforderung des Mietshauses annähern zu können: "Vielleicht war das Gebäude das Mittel, Zugang zu einer Geschichte zu erhalten, zu einer Person, die ich immer für unzugänglich, unabänderlich verschlossen gehalten hatte."
Der Restitutionsprozess, den der Autor angestoßen hat, schlägt Wellen: Kaiser lernt die Absurdität des polnischen Rechtssystems ebenso kennen wie die ambivalenten Einstellungen, die in Polen zum Thema Rückforderung von ausländischen Juden vorherrschen. Überwiegend trifft er auf Menschen, die sein Anliegen gutheißen; Verständnis und Unterstützung erhält er insbesondere von "jenen, die in der Familie selbst ein Fluchtnarrativ hatten". Doch die Reaktionen auf seine Forderung nach Restitution fallen nicht durchweg positiv aus, skeptische Stimmen verbuchen sein Vorhaben als unrechtmäßige Aneignung. Kaiser betrachtet den eigenen Fall auch immer wieder im größeren politisch-gesellschaftlichen Kontext: "Ich war ein Jude, der zurückkam, um sich seinen Familienbesitz zu holen - eine regelrechte Trope in Polen. Seit den 1990er Jahren, seit Polen ein demokratischer Staat wurde und, zumindest prinzipiell, Ansprüche auf Privatbesitz zuließ, sind Rückforderungen ein heikles politisches und kulturelles Thema."
Schließlich entwickelt sich Kaisers Geschichte, seine Reise durch Polen, sogar noch zum Abenteuer, denn sein Familienerbe in Sosnowiec führt ihn auf die Spur der historischen Region Schlesien. Er entdeckt deren turbulente Vergangenheit, wodurch die schlesische Identität zu "einer Schichttorte aus Nationalitäten, Loyalitäten, Zugehörigkeitsgefühlen und Sprachen" wurde. Diese Zusammensetzung führt außerdem dazu, dass Mythenbildung eine lange Tradition in dieser Region hat, es eine regelrechte "schlesische Kultur des Mysteriums" gibt. Und eines davon hat es Kaiser besonders angetan: das Projekt Riese, ein unterirdisches Tunnelsystem im Eulengebirge, angelegt von den Nazis in den knapp letzten drei Jahren des Kriegs. Dieses größte aller schlesischen Mysterien entwickelt einen solchen Sog auf den Autor, dass er dessen Erforschung einen großen Teil seines Buchs widmet.
Kaiser gelangt in eine Community aus Schatzsuchern und Entdeckern, die rund um das Projekt Riese kleinen und großen Abenteuern nachjagen, auf der Suche nach Nazi-Gold und anderen im Erdreich verborgenen Artefakten, die irgendetwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben. Der Autor beschreibt diese Entdecker als eine "dreiste Mischung aus Amateur-Historikern, sehr amateurhaften Archäologen, Höhlenforschern und Verschwörungstheoretikern". Von hier an wird es dann richtig skurril, die Verworrenheit des polnischen Rechtssystems war dagegen noch harmlos. Kaiser begleitet die Schatzjäger in die Höhlen, schaut sich ihre Sammlungen aus NS-Artefakten an, die ganze Wohnhäuser füllen, und lässt sich auch ein Saufgelage im Wald nicht entgehen.
Obwohl man sich "bedrängt und niedergeknüppelt fühlt von der Absurdität" der Schatzsucher, folgt aus der Begegnung mit ihnen eine historisch reflektierende Passage, die das bedeutsamste Kapitel des Buchs ausmacht. Der Autor führt darin aus, warum es unverantwortlich sei, die Verschwörungstheorien rund ums Projekt Riese nur zu belächeln. "Denn unter den durchgeknallten Behauptungen lauert ein hinterhältiger Anspruch: dass deine Vorstellung vom Krieg falsch ist. Die Verschwörungstheorie beharrt darauf, das Narrativ umzugestalten. Sie überbetont auf radikale Weise die Nazi-Agenda und unterbetont auf radikale Weise die Toten. Der Genozid wird zu etwas Zufälligem gemacht. Solche Theorien zu dulden, auch im Spott, bedeutet, ihnen Macht zu verleihen. Man muss bezahlen dafür, über etwas zu lachen, was verurteilt werden sollte."
Diese Überlegungen verleihen Kaisers Buch eine dringliche Aktualität und markieren einen wichtigen Standpunkt in der Debatte um Erinnerungspolitik. Trotzdem ist "Kajzer" kein reines Sachbuch: In der erwähnten Dualität aus sachlich-nüchternem und emotional-persönlichem Zugang liegt eine weitere Stärke. Denn Kaiser erzählt sein Memoir nicht nur als Abenteuergeschichte, er lässt auch teilhaben an den Emotionen, die ihn begleiten, und er reflektiert seine Position in dem Restitutionsprozess im Spezifischen ebenso wie in der Geschichte im Allgemeinen. Noch dazu verleiht auch seine Sprache dem Buch eine erzählerische Note; die Übersetzung von Brigitte Hilzensauer konnte seine Metaphorik und den Humor gut ins Deutsche transportieren. Menachem Kaiser hat mit seinem ersten Buch bewiesen, dass die Aufarbeitung des familiären Erbes sich gelohnt hat. EMILIA KRÖGER
Menachem Kaiser:
"Kajzer". Mein Familienerbe und das Abenteuer der Erinnerung.
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023. 336 S., geb., 28,- Euro
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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