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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Kathrin Schmidt porträtiert in "Kapoks Schwestern" ein abgründiges deutsches Jahrhundert
Die Schaechter-Schwestern und der Kapok-Werner, die hatten sich zu DDR-Zeiten in der Kulisse einer Arbeitersiedlung zunächst beäugt und dann miteinander befasst. Das hatte die ein oder andere Verwicklung mit sich gebracht. Eine Abtreibung und auch eine politisch motivierte Trennung, denn Werner Kapok, der kurz vor der Wende in Berlin eine Professur für Zivilisationsforschung erhält, war Spitzel. Das hatte ihm die eine Schaechter-Schwester übelgenommen. Was folgte: die Flucht in die Arme einer Ersatzfrau samt Zeugung eines missratenen Sohns sowie die demütigende Erfahrung, nach der Wende akademisch den Anschluss verloren zu haben. Als Konsequenz folgte der Rückzug in die ostdeutsche Provinz, wo ihn die verlustig gegangene Kapok-Schwester am Ende des Romans aufsucht und der Liebe eine zweite Chance gibt. Soweit die Rahmenhandlung des neuen Romans von Kathrin Schmidt.
Nicht weniger als ein abgründiges deutsches Jahrhundert findet darin Platz. Die Schaechters nämlich, das wird schnell thematisiert, sind Juden. Und jüdisch zu sein sollte in der DDR aus klassenkämpferischen Erwägungen heraus keine Rolle spielen. Aber natürlich hat es auch in der DDR Antisemitismus gegeben. Der Vater von Werner Kapok, ein Proletarier, wie er im Parteibuche steht, nennt seinen Kollegen, den feingeistigen Joachim Schaechter, und seine Familie "jüdische Großkotze", womit Kathrin Schmidt nicht zum letzten Mal in diesem Roman das Klischee vom kunstsinnigen Juden bedient.
In "Kapoks Schwestern" schickt die Autorin nun die Ahnen der Schaechters von Wien aus nach Sarajevo auf die Spuren einer verlorengegangenen Schwester, vom Moskauer Exil in die frühe DDR, von Amerika nach Kalkutta und zurück ins wiedervereinigte Berlin. Mütterlicherseits wird das Schicksal der Familie Bokshorn verfolgt, väterlicherseits das der Schaechters beleuchtet. Dazwischen proletarisieren die Kapoks mit ihrem Alltagsantisemitismus. Kathrin Schmidt vernäht in dieser Gemengelage so viele tragische Lebenswege, dass man leicht die Übersicht verliert. Schon ertappt man sich dabei, mit dem Bleistift auf dem Buchrücken einen Stammbaum nach dem Vorbild der großen Russen anzufertigen.
Doch etwas unterscheidet diesen historischen Weitwurf, über dem leitmotivisch die Frage der jüdischen Identität schwebt, von den klassischen Vorbildern. Es fehlt ihm die sinnträchtige Auslassung, das retardierende Moment, kurz: das poetische Surplus, das den faktenreichen Stoff atmen und den Leser mehr fühlen als verstehen lässt. Bei Tolstoi kann das die halluzinatorische Widergabe eines Schlachtszenarios sein oder die etwas strapaziöse Schilderung der Schnepfenjagd. Bei Kathrin Schmidt gibt es weder das eine noch das andere. Der Erzähler regiert durch, denn der Stoff schreit nach seiner Bewältigung: die Rolle der Schaechters und Kopoks in den zwanziger Jahren, während der Nazidiktatur, im Exil, in der DDR, nach der Wiedervereinigung. Die Autorin haspelt ihr Erzählmaterial mit beeindruckender Beflissenheit ab, und man hätte ihr entweder raten müssen, es auf die doppelte Länge auszuschmücken oder selektiver damit zu verfahren. Die Schaechter-Schwestern lassen einen bei allem, was sie zu berichten wissen, seltsam kalt.
Eine solche Entwicklung verwundert, denn Kathrin Schmidt begann ihre Autorenlaufbahn als Lyrikerin. Ihr Stil wurde früh mit dem Magischen Realismus in Verbindung gebracht. Noch der buchpreisgekrönte Roman "Du stirbst nicht" von 2009, der von einem autobiographisch grundierten Hirnschlagschicksal berichtet, zeichnet sich durch eindringliche Sprachbilder und Originalität aus. Von all dem ist in "Kapoks Schwestern" nichts zu merken. Kathrin Schmidt ist konventionell geworden. Konventionell in der Puzzlehaftigkeit, mit der sie über Generationen hinweg das Organigramm zweier Familien entblättert. Konventionell aber vor allem sprachlich, will heißen: Gediegenes Aberzählen geht zu Ungunsten von Experimenten. Gelungen sind vor allem die Passagen, die im historischen Horizont der Autorin selbst angelegt sind. Die Leute arbeiten im Roman vor der Wende als Näherinnen des VEB Herrenbekleidung Fortschritt, in volkseigenen Betrieben wie dem Transformatorenwerk, als Korrespondenten des "Zentralorgans" oder im Konsum an der Kasse. Später dann ändern sich die Jobs.
Das Bezirksamt Marzahn wird zum Schauplatz einer sich anbahnenden Liebesgeschichte, in der die Identitätsfrage sich noch einmal in aller Aufgeladenheit stellt. Am Ende einer Tour de Force durch den Morast des zwanzigsten Jahrhunderts hat man allerdings fast vergessen, dass dieser Roman ja auch die Gegenwart verhandeln will. Jüdisch zu sein nach 45. Jüdisch zu sein in der DDR, wo es ja gerade darum gegangen war, es nicht weiter thematisieren zu sollen. Eine wunderbare Schlusspointe entschädigt für Schmidts Weitschweifigkeit.
Der Besuch bei Verwandten in Kalkutta bringt der einen Schaechterin das abgetriebene Kind in Gestalt einer indischen Vollwaisen zurück. Fern jeder Genealogie wird dieses Kind die Familientradition fortsetzen - nämlich durch den Besuch einer jüdischen Schule. So wird erstens eine runde Sache aus dieser Familienchronik und zweitens die Frage nach dem jüdischen Erbe auf gewitzte Weise vom Blut getrennt. Solchem Erfindungsreichtum hätte die Autorin öfter nachgehen sollen, um ihren Familienroman mit einem Denkstil zu veredeln, der ihn von so vielen anderen unterscheidbar gemacht hätte.
KATHARINA TEUTSCH
Kathrin Schmidt: "Kapoks Schwestern". Roman.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2016. 448 S., geb., 22,- [Euro].
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