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Ein Komiker, der sich vergaloppiert, braucht einen Freund: David Grossmans Roman "Kommt ein Pferd in die Bar"
Irgendwann wird es dem Publikum zu dumm: "Wo bleiben die Witze?", brüllt einer, mit gutem Grund, schließlich sind die Zuschauer in die Bar gekommen, um einen Stand-up-Comedian zu sehen. Der reagiert auf die Rufe, erzählt ein, zwei Witze über Beerdigungen, das Publikum lacht dankbar. Es will ihm wohl "helfen, den Abend zu retten", glaubt ein Beobachter, der ehemalige Richter Avischai Lasar. Solidarität mit dem Komiker also? Vielleicht. Oder geht es darum, das abzuwehren, was der dürre Mann auf der Bühne die ganze Zeit über ausbreiten will?
Dov Grinstein, der hier am Abend seines 57. Geburtstags auftritt, ist eine von drei Hauptfiguren in David Grossmans neuestem Roman "Kommt ein Pferd in die Bar", der 2014 im hebräischen Original und nun auch auf Deutsch erschienen ist. Die zweite Figur ist der Erzähler des Buchs, jener Lasar, der von Grinstein in einem Telefonat nach mehr als vierzigjährigem Schweigen zwischen ihnen dringlich zu jenem Abend eingeladen worden ist - er möge ihn auf der Bühne beobachten und ihm anschließend seine Außenwirkung beschreiben. Die dritte ist die zwergwüchsige Maniküre Pitz, auch sie ein Teil von Dovs Publikum bei jener Vorstellung, die der Roman von der ersten bis zur letzten Zeile schildert, von Dovs "einen wun-der-ba-ren guten Abend" bis, 250 Seiten später, "gute Nacht".
Es sind drei Versehrte, die sich hier treffen, drei, die sich in ihrer Kindheit gekannt haben und dann lange nicht mehr. Der Erzähler, der offenbar einigermaßen unbeschadet groß geworden ist und als Richter gearbeitet hat, leidet unter dem Verlust seiner großen Liebe Tamara, die einige Zeit zuvor gestorben ist. Einmal spürt er während der Vorstellung, wie sich "Tamara in mir verkrampfte. Du bist voller Wut, sagte sie. Ich bin voller Sehnsucht, dachte ich, siehst du das nicht?" Die kleine, mittlerweile alt gewordene Pitz ist, wie es scheint, die stille Außenseiterin von damals geblieben, erhebt aber nun ihre Stimme, wenn sie meint, Dovs Erzählungen etwas entgegenhalten zu müssen - "Das stimmt doch gar nicht!", sagt sie einmal, als Dov sich mit grausigen Details aus seiner Kindheit dem Publikum gegenüber grässlich bloßstellt, "du warst der Beste da!". Dass sie mit ihrem Ernst Dovs Auftritt als Komiker weiter ruiniert, scheint sie nicht groß zu bekümmern, und es bleibt bis zum Ende des Texts unklar, ob sie, die nur irrtümlich in diesen Raum geraten ist, überhaupt ein Konzept dieser Kleinkunstgattung hat.
Und schließlich Dov selbst, der den Abend lustvoll in den Sand setzt, jedenfalls nach den Maßstäben seiner Zunft. Denn während er von Anfang an aggressiv auf das Publikum zugeht, die üblichen billigen Beleidigungen alter, beleibter oder auch sonst offenbar angreifbarer Zuschauer inklusive, während er austeilt und sich bereit zum Einstecken zeigt, schockiert er sein Publikum vor allem durch seine Kampflust, die sich auf die eigene Person richtet. Schon die Körpersprache des unsicher herumzappelnden Komikers weist ihn als labil aus, auch wenn die Grenzen zwischen Entblößung und Inszenierung für niemanden durchschaubar sind. Vor allem aber schlägt er sich mehrfach selbst so heftig ins Gesicht, dass er ins Torkeln kommt und einmal sogar seine Brille einbüßt.
Tatsächlich liegt hier einer der Gründe dafür, warum Grossmans Roman in Stil und Anlage so überaus eindrucksvoll geraten ist. Der Autor, der in Interviews erklärte, eigentlich gar keinen Sinn für Witze zu haben, lässt seine Figur entschlossen auf dem Grat zwischen Komik und Grauen balancieren, so dass anfangs noch in vielen Passagen beide Lesarten möglich sind, die des schwarzen Humors ebenso wie die des mit Komik aufgeladenen schieren Entsetzens. Später dann löst sich das auf, Dov wechselt, sozusagen in voller Fahrt, von einem Gleis aufs andere und wieder zurück, und so kommt es, während das Publikum tischweise den Saal verlässt oder lautstark nach Witzen verlangt, zu jener grotesken Abfolge von schnell abgefeuerten Witzsalven und den Fortsetzungen ("wo waren wir stehengeblieben?") der immer aufs Neue unterbrochenen Geschichte aus Dovs Kindheit, deren Inhalt man so zusammenfassen könnte: Ein Vierzehnjähriger wird aus einem paramilitärischen Lager in der Wüste abgeholt, um am Begräbnis eines nahen Verwandten teilzunehmen, ohne dass ihm jemand erklärt, ob es um seinen Vater oder seine Mutter geht.
Kein Stoff für einen Comedy-Abend, natürlich nicht, aber Grossman lässt die Geschichte doch organisch aus dem vorherigen Verlauf des Abends erwachsen, indem er, auch das ist gute Tradition bei derlei, die Malaisen des eigenen Lebens ausbreitet und mit denen der Gesellschaft verknüpft. Die Geschichte seiner Eltern ist ohne den Holocaust nicht zu verstehen, der die väterliche Familie fast vollständig auslöschte und die Mutter, die sich ein halbes Jahr unter prekären Bedingungen vor den Nazis verstecken konnte, nachhaltig traumatisierte - Dovs erste Auftritte finden dann auch Abend für Abend vor der Mutter statt, in der Hoffnung, ihr ein Lächeln abzuringen. Er singt, imitiert Stimmen, er läuft auf den Händen, alles, um der Wucht der entsetzlichen Vergangenheit oder der tristen, von Ausgrenzung geprägten Gegenwart etwas entgegenzusetzen, was diejenigen, die er liebt, schützen könnte. Oder ihn selbst.
Denn das sind die grausigsten Stellen des Romans, diejenigen, die davon erzählen, wie er auf die Gemeinheiten seiner Mitschüler, auf die Schläge, die Demütigungen, die Verhöhnungen und Nachäffereien reagiert. Der gequälte Junge "johlte und schnitt Fratzen, aber zwischendurch glitt sein Blick leer und ausdruckslos über mein Gesicht", erinnert sich der Richter. Damals schritt er nicht etwa ein. Er bat die Lagerleitung, ihn selbst in ein anderes Zelt zu verlegen, er wurde schuldig an Dov, den er einige Zeit zuvor seinen Freund genannt hatte.
All dies entwirft Grossman mit großer Sicherheit, gerade die Passagen, die den gebrochenen, aber unverändert bösartigen Komiker auf der Bühne zeigen, sind meisterlich, mithin der überwiegende Teil des Romans. Grossman lässt Dov wie aufgezogen reden, so dass man um Kopf und Kragen des Komikers fürchtet, er lässt ihn über die Bühne schleichen, tänzeln oder hilflos kriechen, er lässt aufs schönste im Unklaren, was davon Absicht ist und was nicht, und dass er sogar auf einer gut sichtbar angebrachten Kreidetafel festhält, um wie viele sein Publikum laufend schrumpft, mag ebenso Trotz sein wie Befriedigung darüber, dass ein Plan aufgeht.
Aber was für ein Plan wäre das? Warum Dovs Interesse daran, den Richter in seinem Publikum zu wissen, warum die Schilderung einer Szene aus der gemeinsamen Kindheit, deren Wahrhaftigkeit niemand im Raum ermessen kann außer den beiden ehemaligen Freunden?
"Dieser Mann hat das Wesen oder die Begabung eines Dietrichs", urteilt der Richter schon früh an diesem Abend, und damit ist auch die Funktion umrissen, die jene Geschichte von der langen Autofahrt des Kindes zur Beerdigung eines Elternteils besitzt. Denn der vierzehnjährige Dov, der nicht weinen kann, weil er nicht weiß, um wen, und der gar nicht anders kann, als sich zu fragen, welcher der beiden der geringere Verlust wäre, der Vater oder die Mutter, wird von dem mitleidigen Fahrer mit Witzen traktiert - so, wie er nun selbst, vierzig Jahre später, die eigene Leidensgeschichte mit Witzen verknüpft und damit, wie es scheint, erst erzählbar macht: für sich selbst, für sein Publikum.
Und für den Richter, der nun endlich die Gelegenheit bekommt, für den Freund einzutreten, als er das Publikum viel lauter als nötig anherrscht, Dov doch endlich weitererzählen zu lassen. Und vielleicht ist das der Schwachpunkt dieses ansonsten so fabelhaften Romans: Grossman gewährt seinen versehrten Helden doch noch so etwas wie Linderung, wenn nicht Heilung in ihrer Not. Die Dämonen von früher werden sie zwar nicht mehr los, natürlich nicht, aber immerhin scheint sich für den Erzähler, der sich "kaum noch an den Klang meines Lachens" erinnert, zum ersten Mal nach dem Tod der Geliebten wieder eine schüchterne Romanze anzubahnen, und von Dov hören wir, dass er seinen Vater, mit dem ihn ein so schwieriges Verhältnis verband, bis zu dessen Lebensende gepflegt hat.
"Was hältst du davon, dass ich dich nach Hause fahre?", fragt der Richter. "Wenn du darauf bestehst", antwortet der Komiker. Ein bisschen zu rasch geht das am Ende, ein bisschen zu glatt. Aber warum sollte ein bitterschwarzer Abend nicht einmal tröstlich enden?
TILMAN SPRECKELSEN
David Grossman: "Kommt ein Pferd in die Bar". Roman.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser Verlag, München 2016.
256 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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