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Zwischen Angst und Hoffnung: Die Historikerin Bettina Hitzer geht der Rolle der Gefühle in der Krebsmedizin nach.
Von Joachim Müller-Jung
Die erste Berührung ist eine emotionale, wie sollte es auch anders sein. Wer die Diagnose Krebs erhält, für sich selbst oder für Nahestehende, sieht in den Abgrund. Das ist noch immer so, auch wenn inzwischen zwei Drittel der Krebspatienten im medizinischen Sinne als geheilt gelten, die Krankheit also mindestens fünf Jahre nicht wieder aufgetreten ist. Aber auch für sie, die erfolgreich Therapierten, von denen mittlerweile mehr als vier Millionen in Deutschland leben, gilt: Man fühlt den Krebs, bevor man sein Wissen darüber abfragt. Dieses Fühlen sitzt allen Fortschritten zum Trotz so unabweisbar tief, dass Bettina Hitzer, die diesem Thema aus der Perspektive der Historikerin auf den Grund gegangen ist, von "Gefühlsmanagement" als Ziel einer "Gefühlsarbeit" in der Bewältigung der Tumorkrankheiten spricht.
Zweifellos gilt heute, dass den Gefühlen von Patienten und Angehörigen eine fast ähnliche Bedeutung beigemessen wird wie Diagnose und Therapie. Sei es in der Nachsorge, sei es in Gesprächen mit Ärzten, den Pflegekräften, Psychoonkologen und Psychotherapeuten; ablesbar auch an der Bedeutung, die der Lebensqualität von Krebskranken zukommt, wo früher noch fast ausschließlich die Lebensverlängerung das Maß der Dinge war.
Bettina Hitzer hat die "Gefühlsgeschichte" dargestellt, die mit dieser Entwicklung einherging. Genauer: Sie widmet sich dieser Entwicklung in Deutschland - die DDR eingeschlossen - vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis Anfang der neunziger Jahre, um etwas über die Veränderungen in der emotionalen Dimension des Krebsleidens zu erfahren. Ausgangspunkt ist ihre eigene wissenschaftliche Arbeit am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wo seit 2008 der Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle" eingerichtet ist.
Nicht um das über die Jahrhunderte und mittlerweile fast unüberschaubare medizinische Krebswissen geht es der Autorin also. Vielmehr zeigt sie, wann und wie das Emotionale in der Krebsmedizin Einzug gehalten hat, wie vor allem Angst, Hoffnung und Ekel - um die für Hitzer wichtigsten Gefühle zu nennen - die persönlichen und auch die politischen Räume ausgefüllt haben.
Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Instrumentalisierung der Gefühle, insbesondere der Angst. Mit Angst geht man heute meist offen um, sie gilt als angemessene, wie Hitzer feststellt, "fast rationale Reaktion". Im Laufe der Geschichte jedoch wurde die Angst immer wieder politisch zielgerichtet erzeugt, wie in der DDR, wo der Optimismus von Staats wegen gefordert war und es die Menschen zu Prophylaxe und gesunder Lebensweise zu bewegen galt. Auch in der Weimarer Zeit und erst recht im Nationalsozialismus wurde Angst vor Krebs positiv besetzt, um der Krankheit mit Mut entgegenzutreten. Ganz anders später in der Bundesrepublik, wo es ein Auf und Ab gab, die Moralisierung zu dominieren begann und die Angst in mehreren Schüben mal zur Abschreckung (auf Zigarettenschachteln), mal als für die erfolgreiche Bewältigung und Therapie notwendige Haltung adressiert wurde.
Ein besonders trübes Kapitel im Hinblick auf die Gefühlshistorie wird von Hitzer akribisch aufgearbeitet: Es geht um die vermeintliche "Krebspersönlichkeit". Ein provokantes Konzept zur Krebsentstehung, das seine Wurzeln in der Psychosomatik der dreißiger Jahre hatte, aber vor allem später in Heidelberg und Berlin akademisch verfolgt wurde. Es hatte geradezu diskriminierende, vor allem auf Frauen zielende Züge. Die vermeintlich überschüssige Emotionalität, die vor allem auf die Vernachlässigung durch die Mütter zurückgehen sollte, und die Unfähigkeit, "echte" Gefühle zu empfinden, wurden als Auslöser von Krebserkrankungen ausgemacht. In die DDR-Politik passte diese Idee natürlich nicht. Experimentell ließ sie sich auch nicht nachweisen. Ganz anders dagegen die Fortschreibung dieses Konzepts, das den emotionalen Stress als wesentlichen Auslöser von Tumoren nachzuweisen versuchte. Tatsächlich spielt dabei der Einfluss der Psyche auf das Immunsystem, damit auch auf die Bekämpfung bösartig wuchernder Zellen, eine prominente Rolle. Zunehmend geht es dabei um "negative" Emotionen, die das Krebsrisiko förderten. Die Diskussion über unverarbeitete Ängste und Gefühle trieb im Laufe der Zeit freilich wissenschaftlich immer fragwürdigere Blüten, wie Hitzer beschreibt, die in diesem Kapitel auch wirklich Ross und Reiter nennt. Dazu gehören insbesondere die Versuche der Psychosomatiker in Heidelberg, Krankheitsrisiko und Persönlichkeitstyp in direkten Zusammenhang zu bringen. Statt die dominante Rolle anzuerkennen, die Umweltfaktoren und genetische Auslöser spielen, provozierten viele Psychosomatiker lange unnötigerweise Scham- und Schuldgefühle bei Patienten und Ärzten.
Später allerdings mündete die Psychosomatik mit der medizinischen Psychologie therapeutisch in eine durchaus konstruktive, die Konstitution des Patienten fördernde Entwicklung. Wenn man so will, nahm mit diesem neuerlichen Schwenk der Erfolg der Selbsthilferatgeber seinen Anfang. Heute geht es, wie Hitzer erkennt, vor allem um die heilungsfördernden Aspekte der Gefühle, um Hoffnung ganz besonders. Ihr Buch wissenschaftlichen Zuschnitts reiht sich in diese Lebenshilfe-Schriften natürlich nicht ein. Gerade deshalb macht es die "Befreiung der Gefühle" plausibel.
Bettina Hitzer: "Krebs fühlen". Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 540 S., Abb., geb., 28,- [Euro].
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