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Peter Handke sucht den Frieden im Märchen · Von Thomas Wirtz
Handkes Buch ist "eine Geschichte", eine soziale Utopie, ein poetologisches Märchen, ein politisches Manifest - ist einfach alles und deshalb auch die befürchtete Enttäuschung. Denn Handke scheint das Vertrauen in die Literatur verloren zu haben und ist jetzt in das unaufmerksame Zungengemisch ausgewichen. Polemische Irrlaute schieben sich in das naive Erzählen hinein, das Märchen wird mit Absicht beschwert und versinkt unter solcher Bürde. Nichts ist leichter zu verderben als die Leichtigkeit dieser Form, nichts ihr schwerer erträglich als das beschwerte Gutmeinen.
Märchen sind kleine Heilsgeschichten der Familie. Bevor an ihrem Ende der Tod die Liebenden vergisst, sterben die Väter, keifen die Schwiegermütter und hungern die Waisen. Auch Lucies Kleinfamilie bedarf der Erlösung. Das Mädchen bewundert ihre "Kriminalchefinmutter", die mit ihrer burschikosen Bestimmtheit alle Eigenschaften verkörpert, die Handke verachtet. Vertrieben von ihr wird der waldeinsame Vater, ein "Zitterer", der sich an die Natur verliert. Als Flüchtlingskind ist er aus einer Sprache verstoßen worden, die seine zivilisierte Tochter nicht hören mag: "Dem Kind aus der deutschen Großstadt waren die slawischen Urlaute ein Greuel in den Ohren." Diesen Satz über die Sprachabneigung hätte Lucie sagen können, stünde er nicht schon in Handkes Serbien-Text "Abschied des Träumers". Lucies Furcht vor der Vatersprache ist die biographische Deckerinnerung ihres Autors. So bekommt der einfache Skizzenstrich von Vater, Mutter, Kind mit den ersten Worten eine kulturkritisch pastose Untermalung. Lucie ist die Wiedergängerin des sprachverlorenen Peter, eine nur heimlich Wissende, die das Verdrängte einer viel tieferen Sprache von sich fern halten will. Ihr Widerstand gegen den Vater ist das Eingeständnis seiner Überlegenheit, seine Einsamkeit nimmt die Schuld der anderen auf sich.
Märchen erzählen eine Umkehrungsgeschichte, denn stark zeigen sich am Ende die vermeintlich Schwachen. Auch die ordnungshütende Mutter kann sich diesem Gattungsgesetz nicht entziehen. Ihr Polizeiglanz verliert sich bei der Berührung mit dem Wald, das uralte Gebirge zieht die Jugend aus ihrem Gesicht, und nur der Vater bleibt sich in seiner Schwäche gleich. Als die Tochter seine Worte zu verstehen beginnt, erfüllt sich das Märchenversprechen. Lucies Regression zum Kind, das sie ist, schenkt ihr eine Heil bringende Allmacht. Die Rückkehr zur Naivität gelingt mit einem Sprachzauber. Lucie vergisst die mütterlichen "Machtwörter", deren neonhelles Licht die Welt entzauberte. Das Verdrängte bricht aus den "Dingsda" hervor, den ungeliebten Pilzen, die Lucie wie einen Thesaurus - zugleich Schatzkammer und Lexikon - in die böse Stadt hineinträgt. Das Wort ist zum Ding wieder geboren, eine Weihnachtsgeschichte.
Lucies menschenerlösende Reise folgt den Spuren Peter Handkes durch Serbien, der auch den Ding-Gral suchte. Überdeutlich wirken die Pilze als glücklichere allegorische Stellvertreter, leicht verderbliche Abgesandte einer alten Zeit. Aus ihren Waldfarben soll die Sprache leuchten, das Einsame in die "Wäldersattsamkeit" eintauchen. Lucie und die Pilze sind in der Straßenbahn der "Gesprächsstoff. Endlich ein gemeinsames Thema." Handke paraphrasiert mit diesem Satz seine Definition des Poetischen als dem "Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als die einzige Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit". Die Christkindlichkeit Lucies ist das Versprechen einer atavistischen Gemeinschaftserinnerung. Die Vielstimmigkeit der Stadt, das Geschwätz der Themendissonanzen verlöscht zum einen Grundton. "Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie hatten einmal, vor sehr langer Zeit, mit diesen Sachen oder Wesen zu tun gehabt, es nur vergessen." Die grammatischen Personen, geschieden voneinander zu sozialen Monaden, sind die Leidtragenden, schemenhafte Symptome in sprachlicher Form. Ihrer Dingvergessenheit will das Märchen den einen Welttext soufflieren, der aus der Feder Handkes stammt.
So viel Absichtlichkeit verstimmt. Handkes Bericht einer Serbien-Reise war ein manchmal ungerechtes Pamphlet, dem aber für Augenblicke die Poesie gelang. Dagegen gehört es zu den Paradoxien des Märchens, dass es seine Fabulierfreiheit mit einem strengen Möglichkeitssinn verbinden muss. Figuren dürfen sich in Esel verwandeln, nicht aber über die weltverbesserische Absicht dieser Metamorphosen nachdenken. Das Pamphlet darf aussprechen, was das Märchen nicht erzählen darf. Deshalb ist seine vermeintliche Leichtigkeit der Grund seines seltenen Gelingens. Handkes Kulturkritik ist das Ende des Märchens und wird darüber selbst eines. Die Poesie ist nachtragend: Sie straft den Verächter ihrer Gesetze mit verirrten Worten.
Peter Handke: "Lucie im Wald mit den Dingsda. Eine Geschichte". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 90 S., geb., 28,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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